Samuel Herzog
Welt ohne Rahmen
Landschaften von Egon Schiele in Wien (2004)
Als versuche er verzweifelt, in der kalten Luft einen Halt zu finden, hat er seine Arme weit ausgestreckt. Zerbrechlich und voller Hast scheinen sie den herbstlichen Himmel nach einer Fuge abzutasten, nach einem Winkel, wo sich die nervigen Finger festkrallen könnten. Nackt und blass, scheint der Körper zu schwach, vor der Lichterwildnis zu bestehen, die ihn umfasst hält mit ihren Wolken und ihrem Leuchten. Fast droht er mit den letzten Blättern weggerissen zu werden, die ein launischer Wind umhertreibt.
Was wie die Beschreibung eines Figurenbildes, die Darstellung eines bedrohten Körpers in unwirtlicher Umgebung tönt, bezieht sich tatsächlich auf den «Herbstbaum in bewegter Luft», den Egon Schiele 1912 mit weichem Bleistift und Öl auf eine Leinwand gemalt hat. Ein Herbstbild, das in einem Punkt keine Zweifel aufkommen lässt: Der Winter steht vor der Tür als ein grauer Zeitgenosse, dessen kalter Atem uns mit dem Fallen der Blätter über die Seele streift. Ein Herbstbild, das auch typisch ist für einen Künstler, dem alles zum existenziellen Menschenbild geriet, zur Metapher des Ausgesetztseins - nicht nur die Figurenbilder, die zwischen Erotik und Askese lavierenden Akte, sondern ebenso die Landschaftsdarstellungen, die zahlenmässig knapp die Hälfte von Schieles Werk ausmachen.
Tanz in der Kälte
Das wird nun auch in einer Ausstellung des Wiener Leopold-Museums deutlich, die sich ganz den Landschaften von Schiele verschrieben hat. Die Sammler Elisabeth und Rudolf Leopold, die mehr als zweihundert Werke von Schiele besitzen, haben eine Schau zusammengestellt, die rund vierzig Gemälde und ein gutes Dutzend Arbeiten auf Papier umfasst - die Hälfte davon stammt aus eigenen Beständen. Dass Schieles Landschaften im Vergleich zu seinen Akten eher wenig bekannt sind, hat nach Auskunft der Leopolds einen einfachen Grund: Die grossen Landschaftsbilder sind auf einen empfindlichen Grund aus Gips und Kreide gemalt und sollten deshalb so wenig wie möglich transportiert werden.
Die Wiener Schau ist also wohl eine einzigartige Gelegenheit, Schieles Landschaften in diesem Umfang zu entdecken. Da tanzen ausgezehrte Bäumchen gegen die Kälte an («Kleiner Baum im Spätherbst», 1912), verzehren sich Kreuze wie Bäume im Wind («Kalvarienberg», 1912), welken Sonnenblumen im Winterlicht dahin («Sonnenblumen IV», 1914), beisst sich der Zahn der Zeit durch morsches Holz («Zerfallende Mühle», 1916). Und regelmässig begegnen wir der alten, von ihren kleinen, gotischen Häuschen geprägten Stadt Krumau, die Schiele immer wieder besuchte und in der er sich 1911 sogar niederlassen wollte - ein Plan, den die Prüderie seiner Nachbarschaft nach wenigen Monaten vereitelte. Das südböhmische Krumau ist Gegenstand von Bildern wie «Häuser an der Moldau» (1910), «Stadt am Blauen Fluss» (1911), «Tote Stadt» I, II und III (1910/11), «Die kleine Stadt» (1912/13) oder «Häuser am Fluss» (1914).
Dabei hielt sich Schiele erstaunlich genau an die sichtbare Realität - vor allem im Vergleich mit den Landschaften anderer Expressionisten, die meist eher typisiert und verallgemeinert wirken. Ja der Künstler folgte dem Sichtbaren so genau, dass die Leopolds noch 1972 anlässlich von Recherchen vor Ort die Objekte vieler Gemälde identifizieren konnten. Die damals fotografierten Ansichten von Krumau, die im Katalog der Ausstellung mit den Gemälden zusammengebracht werden, machen allerdings auch deutlich, welche Freiheiten sich Schiele da und dort gegenüber seinem Motiv genommen hat: Bald hat er ganze Gebäude und Gebäudeteile weggelassen oder hinzugefügt, bald Bauten von einem Stadtteil in einen anderen versetzt, architektonische Details oder Proportionen verändert.
Vogelperspektive
Die meisten Stadtansichten sind aus einer leichten Vogelperspektive heraus gegeben - worin sich eigentlich bereits verrät, was Schiele an der Stadt interessierte. Im Unterschied zu einem Stadt-Flaneur, der aus seiner Froschperspektive heraus vorrangig die Fassaden der Gebäude wahrnimmt, treten für den träumerischen Flug-Blick Schieles, der sich Krumau offenbar vor allem vom Schlossberg aus angesehen hat, die Hausdächer gleichberechtigt neben die Fassaden. Dies führt zu einer Rhythmisierung des Bildes, wie sie von einem tieferen Blickpunkt aus nicht möglich wäre. Zu dieser ungewöhnlichen Perspektive passt Schieles Faszination für Einzelheiten wie die Strukturen von Mauern und Dächern, rote Kamine oder die mit architektonischen Details korrespondierenden Farben von im Wind flatternder Wäsche. All dies wird in einer Weise ins Bild gepackt, dass jedes Fenster von einem eigenen Lebenswillen getrieben scheint, jeder Ziegel eigenen Naturgesetzen folgt. So verwandeln sich die Gebäude in schwer fassbare Organismen, deren Gliedmassen in komplizierten Verschränkungen Halt suchen - und doch keine stabile Position finden können. Und also gleiten auch unsere Augen über diese Bilder, ohne irgendwo einen Punkt, einen Anfang oder ein Ende zu finden - rastlos, als suchten sie für die Welt selbst einen passenden Rahmen.
Dieser Eigenart von Schieles Bildern versucht in Wien auch die Ausstellungsarchitektur Rechnung zu tragen. Vor die Mauern des Museums wurden Stellwände geblendet, die den Besucher wie ein kompliziertes Facettenwerk umgeben. So hat jedes Bild seine eigene Wand, tritt jedes Werk gleichberechtigt neben das andere. Das hat allerdings auch eine Verkleinerung des Raumes bewirkt, der leider die Beleuchtung nicht entspricht - folglich werden fast alle Bilder von einem Schlagschatten beeinträchtigt. Auch die ziemlich bunte Karte von Krumau, die im ersten Raum wie ein riesiger Teppich am Boden ausgelegt ist, wirkt bei allem Verständnis für die didaktische Absicht doch etwas störend. Das ist schade - aber vor Schieles Herbstbäumchen verlangt es unsere Seele auch so nach einem wärmenden Jäckchen.
Egon Schiele - Landschaften. Leopold-Museum Wien. Bis 31. Januar 2005. Katalog _ 29.80.
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 12. Oktober 2004 Nr. 238 41