Samuel Herzog

Wenn die Puzzle-Teilchen nicht passen

Schwitters und die Folgen - zwei Ausstellungen in Basel (2004)

Kurt Schwitters wird derzeit in Basel parallel mit zwei Ausstellungen geehrt. Das Museum Jean Tinguely demonstriert, wie Schwitters nachfolgende Künstlergenerationen beeinflusst hat. Und im Kunstmuseum werden die Collagen und Assemblagen des «Merz»-Künstlers mit Werken seines Freundes Hans Arp in Verbindung gebracht.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lag die Wirklichkeit in Scherben. Technische Errungenschaften wie die Eisenbahn oder das Kino hatten schon vor Kriegsbeginn ganz neuartige Erfahrungen provoziert und manch alte Wahrnehmungsordnung in Frage gestellt. Der Granatenhagel über einem von Schützengräben zerfurchten Europa trieb dann den Blick vollends in Splittern auseinander. 1918 präsentierte sich die Welt ihren Bewohnern als ein Haufen kleinster Puzzle-Teilchen - und viele ahnten wohl, dass sich diese Stückchen nie wieder zu einem Ganzen würden zusammenfügen lassen.
Das liess natürlich auch die Kunst nicht unberührt. Vor dem Krieg hatten viele noch daran geglaubt, dass sich die Welt aus einer zentralen Position heraus perspektivisch erschliessen lasse - nun aber stieben die Sehlinien wie nächtliches Kreuzfeuer in alle Richtungen auseinander, hatten die Blicke keinen Anfang mehr und kein Ziel. Die Kunst fand indes bald eine Antwort auf die Zerstreuung des Sichtbaren: Wenn sich diese Puzzle-Teilchen schon nicht ineinander fugen liessen, was lag da näher, als sie übereinander zu pappen. Wenn die Weltstückchen die ärgerliche Tendenz aufwiesen, auseinander zu driften, dann mussten sie eben mit Hilfe von Leim oder Nägeln zusammengehalten werden.

Der scheinbare Zusammenhalt

Die Technik der Collage oder Assemblage, die sich in den Jahren nach dem Krieg plötzlich grösster Beliebtheit erfreute, kann somit einerseits als eine Art zeitgemässen Abbildes der Realität jener Tage gelesen werden. Andererseits aber kann man die Collage auch als einen eher kindlich-trotzigen Versuch deuten, das Beängstigende einer auseinander driftenden Welt zu bannen, mit Hilfe von Leim zumindest den Anschein eines beruhigenden Zusammenhalts herzustellen.
Auch für Kurt Schwitters (1887-1948) brachte der Krieg die entscheidende Wende. Zwischen 1909 und 1914 liess sich der Hannoveraner in Dresden zu einem durchaus akademischen Maler ausbilden. Schon während des Krieges entstanden abstrakte oder kubistisch angehauchte Gemälde, 1918 dann die ersten Collagen und im Jahr darauf Assemblagen aus gefundenen Materialien aller Art. Ebenfalls bereits 1919 begann Schwitters Gedichte und Prosastücke zu schreiben, die er ähnlich wie seine Collagen aus sprachlichen Bruchstücken und umgangssprachlichen Phrasen zusammensetzte. «Merz» war der Name, den er all seinen Schöpfungen gab. Auch das war ein zufälliger Fund, hatte Schwitters doch in einer frühen Assemblage eine Anzeige der «Kommerz- und Privatbank» so verwendet, dass vom «Kommerz» nur noch der «Merz» übrig blieb.
Schwitters steht nun im Zentrum zweier Ausstellungen in Basel, die unterschiedlicher kaum sein könnten, obwohl sie zum Teil durchaus ähnliche Werke des «Merz»-Künstlers vorführen. Im Museum Jean Tinguely wird Schwitters in Kombination mit dem Künstler des Hauses präsentiert. Den Mittelpunkt der Schau bildet eine Teilrekonstruktion des famosen «Merzbaus», den Schwitters 1923 in seinem Haus an der Waldhausenstrasse 5 in Hannover begann: eine durch die verschiedensten Räume und über alle Stockwerke führende Konstruktion, die an eine etwas eckig geratene Grotte mit allerlei seltsamen Altären und Nischen erinnert. Das Haus wurde 1943 bei einem Bombenangriff völlig zerstört.
Nebst dem rekonstruierten «Merzbau» und damit zusammenhängenden Dokumenten führt die angenehm sparsam eingerichtete Schau vorrangig kleinformatige Collagen und Assemblagen vor. Ein zentrales Anliegen ist es ihr, die Wirkung von Schwitters' Kunst auf nachfolgende Generationen, hauptsächlich natürlich auf Jean Tinguely, zu zeigen. Die beiden Künstler haben denn auch einiges gemeinsam: eine gewisse Liebe zum hintergründigen Witz, die Bevorzugung von Fundmaterialien, die Arbeit auch mit Texten usw. Ein besonderes Gewicht legt die Ausstellung aber auf den Umstand, dass Schwitters wie Tinguely begehbare Skulpturen geschaffen haben und so die physische Erfahrung von Kunst möglich machen wollten. Der Merzbau wird also mit den verschiedensten «Kulturstationen» in einen Vergleich gebracht, die Tinguely und sein Umfeld geplant und teilweise auch realisiert haben: Vom «Dylaby» über «Hon» und das «Gigantoleum» bis zum riesigen «Cyclop» im Wald von Fontainebleau.

Glamouröses und Kleinteiliges

In dieser Kombination mit Tinguely ist es vor allem die spielerische, die experimentelle und oft etwas schalkhafte Seite von Schwitters' Werk, die herausgestrichen wird. Ganz anders wirkt da die gleichzeitige Ausstellung im Basler Kunstmuseum, wo Schwitters sich die Bühne mit Jean Arp teilen muss - ein Auftritt im Duo, der bereits 1956 in der Kunsthalle Bern erprobt wurde. In Kombination mit den biomorphen Werken von Arp, die natürliche Wachstumsprozesse durch ei-ne starke plastische Durchgestaltung spürbar machen wollen, wirken auch die Werke von Schwitters ganz anders: Hier im Kunstmuseum ist es eher die konstruktive, auch am Geometrischen interessierte Seite seiner Collagen, die ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.
Schwitters und Arp waren befreundet, was in manchen Werken dieser Schau durchaus offensichtlich wird. So gibt es etwa von Schwitters eine kleine Collage aus dem Jahr 1928 zu entdecken, in welche er einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild der «Schnurruhr» von Arp integriert hat. Umgekehrt hat Arp noch 1959 eine Collage mit dem Titel «Puppe, Schwitters tragend» realisiert: eine Art vasenförmiges Idol, in dessen Mitte sich eine klitzekleine Collage findet.
Während das Kunstmuseum nur über relativ wenige Werke von Schwitters verfügt und folglich viel vor allem aus Hannover ausleihen musste, konnte Kurator Hartwig Fischer aus einer reichen Sammlung von Werken Arps schöpfen. Das merkt man dieser Schau denn auch ein wenig an: Die Ausstellung beginnt mit einem grossartigen Arp-Raum, in dem wir auf Klassiker wie die «Konfiguration (Nabel, Hemd und Kopf)» von 1927/28, die «Unendliche Amphora» von 1929 und den «Torso» von 1931 stossen. Und die Schau endet mit einem ebenso charismatischen Skulpturenraum, wo sich Plastiken wie «Menschlich mondhaft geisterhaft» von 1950, «Spiegelblatt» und «Landschaft oder Frau» von 1962 sowie der aberwitzige «Kobra-Kentaur» ein Stelldichein geben. - Die Räume dazwischen sind zwar mit derselben Sorgfalt eingerichtet, wirken jedoch längst nicht so glamourös. Das hat wohl damit zu tun, dass Schwitters nur relativ wenige Grossformate schuf und sich eher aufs Kleinteilige, auf die Miniatur spezialisiert hat. Ausserdem sind viele seiner Arbeiten auf Papier entstanden und äusserst fragil, was aus konservatorischen Gründen eine vorsichtige Beleuchtung nötig macht. Die Verbindung zu dem formal doch erheblich raumgreifenderen Arp mag sich also zwar inhaltlich immer wieder aufdrängen, ausstellungstechnisch aber ist sie gar nicht so leicht zu leisten. Also erstaunt es kaum, dass auch diese Basler Schau selbst streckenweise wie eine Collage wirkt - doch dies wiederum passt ja eigentlich ganz gut zum Thema.

Schwitters - Arp. Kunstmuseum Basel. Bis 22. August. Katalog Fr. 58.-. Kurt Schwitters. Merz - ein Gesamtweltbild. Museum Jean Tinguely, Basel. Bis 22. August. Katalog Fr. 59.-.



Kurt Schwitters: «Ohne Titel (H. Bahlsens Keks-Fabrik AG)», 1930, Collage auf Papier.
(Bild Katalog Museum Jean Tinguely


erschienen in NZZ, FEUILLETON, 30. April 2004 Nr. 100 45