Samuel Herzog
Allein auf der Schultoilette
David Shrigley im Kunsthaus Zürich (2003)
Nichts ist vor seiner Feder sicher: Mit schnellen Kritzeleien zeigt David Shrigley auf, wo sich im Alltäglichen das Absurde, im Philosophischen das Paradoxe, im Toaster der Urknall verbirgt. Das Kunsthaus Zürich widmet dem Briten nun erstmals im deutschsprachigen Raum eine Einzelausstellung - und da gibt es viel zu schmunzeln.
«Lieber Vater, ich sitze im Gefängnis, und man wird mich demnächst hängen. Zu Recht hat man mich beschuldigt, ich hätte . . .» Und dann folgt da nur noch ein kleiner schwarzer Fleck. Das Schreiben ist zwar erheblich kürzer als Kafkas «Brief an den Vater», dabei aber deutlich gewichtiger: Sind die Worte doch auf eine Stahlplatte in der Form eines leicht zerknitterten Zettels geschrieben, die am Eingang zu der jüngsten Ausstellung von David Shrigley (geb. 1968) im Zürcher Kunsthaus am Boden liegt - wie achtlos hingeworfen. Dieser Auftakt macht bereits deutlich, was den Besucher hier erwartet: launige Kommentare zu einer Welt und einem Schicksal, dessen Schläge und Ausrutscher als äusserst kapriziös empfunden werden - mal geschrieben, mal gezeichnet, mal fotografiert oder als kleine Plastik ausgeformt.
Das kann eher derb sein, wie zum Beispiel im Fall eines Katzenkörbchens, in dessen Innerem etwas Organisches geplatzt sein muss - quillt doch eine klebrig wirkende Masse durch alle Ritzen und Öffnungen des kleinen Heims. Oder aber die Kommentare kommen äusserst poetisch daher, wie etwa auf der Fotografie eines herbstlichen Waldbodens. Unter all den farbigen Blättern erkennen wir eines, das mit ein paar weissen Buchstaben beschrieben ist: «One Day a big Wind will come», können wir da entziffern.
Bei aller Absurdität beanspruchen die Arbeiten auch immer wieder einen gewissen philosophischen Tiefsinn - wenn auch auf ihre eigene, bizarre Art. So zum Beispiel in der Unterhaltung zwischen einem Bleistift und einem Radiergummi: Sie gipfelt darin, dass der Bleistift den Gummi daran hindert, die Genfer Konvention auszulöschen. Oder aber auf einer Foto mit dem Titel «Lost Filofax»: Sie zeigt eine Agenda, die auf dem Gehsteig bereitliegt, ins nächste Fundbüro gebracht zu werden. In weissen Buchstaben allerdings prangt eine deutliche Warnung auf dem Deckel: «Please do not return this to me as I don't want it back» - ganz offensichtlich will sich da jemand nicht mehr von seinen Terminen hetzen lassen.
Ob sich der Künstler aus Glasgow nun Alltäglichkeiten oder philosophischen Problemen, Banalitäten oder Absurditäten des Lebens zuwendet, stets eignet seinen Kommentaren etwas leicht Verschrobenes. Manchmal glaubt man fast, man habe es hier mit einem trotzigen Teenager zu tun, der im Schulzimmer zwar unauffällig und brav ist, auf der Schultoilette aber seine ganzen Zweifel an dieser Welt mit kleinen Zeichnungen und Textchen auf der Wand verewigt - getrieben vielleicht gar von einer geheimen Mission: zu beweisen nämlich, dass alles, was die Erwachsenen für sinnvoll halten, im Kern eigentlich völlig absurd und sinnlos ist.
Dem entspricht auch der Stil der Zeichnungen: Es sind schnelle Kritzeleien, die uns wie Splitter aus grösseren Zusammenhängen entgegengeschleudert werden - Notate ohne jeden Anspruch auf Kunstfertigkeit. Einerseits verknüpft sich mit diesem bewussten und ein wenig übersteigerten Dilettantismus wohl auch das Bemühen um eine gewisse Authentizität - ganz nach dem Motto: Nur eine schlechte Zeichnung kann eine gute Zeichnung sein. Andererseits macht Shrigley auch die offensichtlich mangelnde Sicherheit seines Strichs immer wieder einmal zum Thema: etwa wenn er, entschieden unbeholfen, eine Reihe von konzentrischen Kreisen auf ein Blatt zeichnet, um zuinnerst schliesslich zu der Folgerung zu gelangen: «I Lack Skill (I got someone else to do this).»
Sein Werk sei zwar persönlich, doch nicht autobiografisch, sagte Shrigley in einem Interview: «Wenn ich zeichne, dann tue ich so, als wäre ich jemand anderes - jemand, der ein wenig verrückt ist.» Und jemand, der mit seinem Publikum auch ganz gerne kleine Spielchen spielt. In einer Ausstellung in Grossbritannien etwa hat Shrigley die Besucher kürzlich mit folgender Notiz überrascht: «Während Sie das hier lesen, steht ein Mann am Fenster und fotografiert Sie. Er wird ein Wachsmodell nach Ihrem Bild formen und es zu den Figuren anderer Menschen gesellen. Dann wird er sonderbare Spielchen mit ihnen spielen.» Kein Zweifel: Der Mann am Fenster, das kann nur Shrigley selbst sein.
Wie ganz anders als diese kleinen britischen Gemeinheiten treten da die Arbeiten von Martin Frommelt (geb. 1933) auf, dem das Kunsthaus Zürich gleichzeitig eine eigene Ausstellung widmet. Der Liechtensteiner hat mehr als 200 Farbradierungen in fünf riesigen Büchern zu einem Epos zusammengefasst und diesem einen wuchtigen Titel gegeben: «Creation - Fünf Konstellationen zur Schöpfung». Manche der farbgewaltigen Blätter sind mehr oder weniger abstrakt, andere eher symbolträchtig wie etwa das Bild eines noch nicht abgenabelten Embryos. Während bei Shrigley alles vom Zweifel an einer religiösen oder metaphysischen Wirkungsmächtigkeit von Kunst durchsetzt ist, erscheint die Kunstwelt bei Frommelt noch ganz in ihrer alten, modernen Ordnung. Und also dürfen wir von seinen Blättern auch erwarten, was er uns in den Titeln seiner Bücher verspricht: «Botschaften und Sinn» etwa oder «Transzendenz und Reflexion».
Schwitters - Arp. Kunstmuseum Basel. Bis 22. August. Katalog Fr. 58.-. Kurt Schwitters. Merz - ein Gesamtweltbild. Museum Jean Tinguely, Basel. Bis 22. August. Katalog Fr. 59.-.
Kurt Schwitters: «Ohne Titel (H. Bahlsens Keks-Fabrik AG)», 1930, Collage auf Papier.
(Bild Katalog Museum Jean Tinguely
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 30. April 2004 Nr. 100 45