Samuel Herzog
Ohne Nurse im Bilderdschungel
Insgeheim haben wir immer schon befürchtet, dass es so aussehen könnte in unseren Köpfen: farbig und mit zahlreichen Löchern, in Schichten voller Verbindungen und Verknüpfungen, mit Rissen, Schrunden und scheinbar sinnlos herumgeisternden Bildfetzen - kurz so, dass kein Mensch wirklich sagen kann, warum es funktioniert, warum wir die Kaffeetasse tatsächlich bloss an die Lippen führen und nicht versuchen, mit ihr Romane zu schreiben. «AMVK-EZFK» heisst die erste Ausstellung, mit der sich Philippe Pirotte als neuer Direktor der Kunsthalle Bern seinem Publikum vorstellt. Hinter der Abkürzung verbergen sich der Name einer Künstlerin und der Titel ihrer Schau: Anne-Mie van Kerckhoven - «Europäisches Zentrum für futuristische Kunst». Wer die Ausstellung betritt, fühlt sich wie in einem geheimnisvollen Labor, wo Bilder erforscht werden, die zumindest insofern futuristisch wirken, als sie fast durchgängig am Computer bearbeitet wurden. Vor einigen Wänden hat die Künstlerin Holzgestelle errichtet, auf denen Fernsehmonitoren, Zeichnungen und Computerprints in Szene gesetzt sind. Der Einsatz von perforierten Alublechen führt dazu, dass wir fast immer verschiedene Ebenen gleichzeitig sehen. Da und dort hat van Kerckhoven auch schwarze Löcher auf die Wände gemalt, und ausserdem lässt sie Videoprojektoren kreisen, setzt Spiegel ein und schickt uns gar in einen Raum mit Sensoren. «Head Nurse» ist ein Begriff, der in dieser Ausstellung immer wieder auftaucht - und tatsächlich scheint die Künstlerin dieses Dickicht aus älteren und jüngeren Arbeiten als eine Art Parallelraum zu unserem Kopf zu verstehen. Nur: Nach einer Nurse, die uns sicher durch dieses Labyrinth der Bedeutungen geleiten würde, suchen wir vergebens. Auch Pirotte will diese Rolle wohl nicht übernehmen, wenn er im Pressetext schreibt, dass die Logik dieser Schau eher expansiv als limitierend sei: «Vielschichtigkeit ist demnach positiv und als Interpretationsfeld zur Kompensation entropischer Bedeutungsebenen gedacht, die latent zur Selbstorganisation auffordern.» Wer sich nach dem Besuch dieser Schau eher desorganisiert fühlt, ist folglich wohl schlicht zu faul.
AMVK-EZFK. Anne-Mie van Kerckhoven - Europäisches Zentrum für futuristische Kunst. Kunsthalle Bern. Bis 26. März. Katalog Fr. 70.-.
© Pro Litteris
Im Labyrinth der Bedeutungen: Blick in die Ausstellung von Anne-Mie van Kerckhoven. (Bild her) )
erschienen in NZZ, FEUILLETON, 12. Februar 2005 Nr. 36 48