Samuel Herzog

Erlösung in der Regression

«Ce qui arrive» - eine programmatische Schau in Paris (2003)

Von der Kunst seit der Moderne hat der französische Philosoph Paul Virilio nie viel gehalten. Nun aber braucht er eine ganze Reihe von Kunstwerken, um seine These zu illustrieren, dass die Welt an ihrer eigenen Technik zugrunde gehen wird.

Wenn es nach Paul Virilio geht, dann wird erst alles ganz schlimm - und dann wird alles wieder gut. Oder anders gesagt: Der französische Philosoph ist überzeugt, dass die Welt im Moment auf eine Art von Fegefeuer zusteuert, auf einen Flächenbrand, der alle Errungenschaften der modernen Zivilisation abfackeln wird. Und erst hernach dann wird ein geläuterter Menschen aus dieser Asche auferstehen - und es wird gut sein, denn dieser Mensch wird vergeblich nach dem Handy in seiner Tasche suchen, umsonst auf die Abendnachrichten warten, keinen Tumbler mehr zum Trocknen seiner T-Shirts benützen können und natürlich auch in kein Flugzeug mehr steigen. In dieser Zukunft, die frei von aller Technik sein muss, wird der Mensch zu seinen eigentlichen Werten zurückfinden.

Schuld ist auch die Kunst

Ein schöner Gedanke. Leider spricht der Prophet Virilio zu selten von diesem Paradies, das er da aus der Asche unserer heutigen Zivilisation erblühen sieht. Dafür aber erklärt er umso drastischer, warum es mit unserer heutigen Welt nur abwärts gehen kann, warum alles schiefgehen muss. Schuld ist erstens der technische Fortschritt, denn je höher der Mensch seinen Turm baut, desto grösser wird die Einsturzgefahr. So ähnlich steht es schon in der Bibel. Und Hannah Arendt hat es für unser modernes Gehör nochmals auf eine knackige Formel gebracht, als sie schrieb, dass der Fortschritt und die Katastrophe die zwei Seiten derselben Medaille seien. Schuld sind für Virilio aber auch die Massenmedien, «die sich durch denselben Hang zum Extremismus auszeichnen wie der Terrorismus oder der totale Krieg».
Und schuld ist nicht zuletzt auch die «immer deutlicher sich abzeichnende Gottlosigkeit der [zeitgenössischen] Kunst». Eine Kunst, die immer schon «auf gefährliche Art und Weise die Greuel der modernen Verwüstungen und die dazugehörigen Diktatoren [. . .] indirekt begrüsst» hat. Eine «erbärmliche» und «erbarmungslose» Kunst, die nicht mehr bloss schamlos ist, sondern sich «die Schamlosigkeit der Schänder und Folterknechte, den Hochmut des Henkers zu Eigen gemacht» hat. Eine Kunst, die uns betrügt, indem sie uns «Unmittelbarkeit» vortäuscht durch eine «den Geist beleidigende Präsenz». Eine Kunst, deren «zeitgenössischer Nihilismus das Drama einer Ästhetik des Verschwindens» offenbart - «ein massenmedialer Akademismus, der danach strebt, jede Originalität und Poesie im Stillstand der Unmittelbarkeit erstarren zu lassen».
So weit, so gut. Solche Hiebe gegen die zeitgenössische Kunstproduktion formulierte Virilio vor zwei Jahren in Vorträgen mit Titeln wie «Eine gnadenlose Kunst» oder «Die Kunst des Schreckens» (auf Deutsch publiziert im Merve-Verlag, Berlin 2001). Er leistete damit seinen etwas verspäteten Beitrag zu einer französischen Debatte um den Wert zeitgenössischer Kunst, die Jean Baudrillard Mitte der neunziger Jahre mit seinem «Complot de l'art» ausgelöst hatte - einer pauschalen Verurteilung aller zeitgenössischen Kunst. Während Baudrillard ein stark sexualisiertes Vokabular sowie Analogien und Metaphern aus dem pornographischen Bereich benützte, um die Widerlichkeit zeitgenössischer Kunstproduktion sinnfällig zu machen, illustriert Virilio die Abscheulichkeit der modernen und nachmodernen Kunst, indem er sie ständig unter Faschismusverdacht stellt. Genüsslich zitiert er so zum Beispiel die Kunsthistorikerin Jacqueline Lichtenstein, die sich bei einem Besuch im Museum von Auschwitz plötzlich in einem Museum für zeitgenössische Kunst wähnte.
Die Verwirrung war also gross, als man im letzten Herbst erfuhr, dass Virilio in Paris eine Kunstausstellung kuratieren werde - und dies auch noch ausgerechnet in der Fondation Cartier pour l'art contemporain, einem der nobelsten Zentren für zeitgenössische Kunst. Warum nur hatte die Fondation ausgerechnet Virilio eingeladen, in ihren edlen Hallen eine Ausstellung zu kuratieren? Wegen des Namens? Um Konfliktbereitschaft zu markieren? Und was konnte das Ziel des Philosophen sein? Würde er zeigen, dass er bessere Ausstellungen machen kann als andere Kuratoren? Würde er demonstrieren, was er für gute Kunst hält?
Weit gefehlt. Virilio verfolgte mit seiner Ausstellung nur ein einziges Ziel: Seinen technologiekritischen Theorien entsprechend wollte er darstellen, dass mit jeder technischen Erfindung immer auch gleich der dazugehörige Unfall, die entsprechende Katastrophe in die Welt gesetzt wird. «Ce qui arrive» lautet der Titel der Schau, die ihr theoretisches Fundament bis hin zu Aristoteles ausdehnt, der Unfälle nicht als externe Ereignisse ansah, sondern als den Dingen selbst bevorstehend. Um seine These zu untermauern, hat Virilio die Arbeiten von einem guten Dutzend Künstlern in der Fondation arrangiert. Im Erdgeschoss gibt es eine aus Flugzeug-Wrackteilen gebaute Schwebeskulptur von Nancy Rubins sowie eine Installation aus aufwärts strebenden Metallteilen von Lebbeus Woods zu sehen - Letztere soll die Phantasie dazu anregen, sich einen Ausstellungsraum vorzustellen, dessen Decke eingebrochen ist. Im Untergeschoss dann werden in Kojen Filme und Photographien vorgeführt, die allesamt von Naturkatastrophen (Erdbeben, Stürme usw.) oder Unfällen (Abstürze, Entgleisungen, Untergänge . . .) handeln. Da gibt es etwa die Katastrophen-Collagen zu sehen, die Bruce Connor in den 1950er Jahren zusammengestellt hat. Cai Guo-Qiang filmt ein Feuerwerk, als würden Geschosse in die Häuser einer Stadt einschlagen. Von dem armenischen Cineasten Artavazd Achotowitch Pelechian wird «Notre Siècle» projiziert, eine klaustrophobische Schilderung der russischen Eroberung des Weltraums. Manches bekommt im Kontext dieser Ausstellung auch einen ganz neuen Sinn, so zum Beispiel das Börsenvideo von Aernout Mik. Und natürlich gibt es zahlreiche Arbeiten, die vom 11. September 2001 handeln: zum Beispiel ein Video von Tony Oursler, das in leichter Verlangsamung stundenlang die Aufräumarbeiten in einer gigantischen Dunstwolke zeigt.
Es geht Virilio bei all diesen Werken wohl nicht darum, die Künstler als Kritiker ihrer Zeit zu Wort kommen zu lassen. Sonst hätte er wohl kaum dem Film so viel Raum gegeben - einem Medium, dem er die Zerstörung des Wesens der Kunst und die «Uniformierung des Auges» anlastet. Virilio will nur seine These illustrieren. Indem er hier mit zahllosen, sich auf der Ebene der Töne immer wieder überlagernden Katastrophenbildern eine multimediale Überforderung unserer Wahrnehmung inszeniert, will er uns fühlen lassen, dass er Recht hat, dass die Welt auf eine Megakatastrophe zutreibt und wir nur auf die Rückkehr in einen vortechnologischen Zustand hoffen können.

Instrumentalisierte Kunst

Den kritischen Diskurs führen hier nicht die Bilder, denn diese Macht hat ihnen Virilio durch die Inszenierung genommen. Den kritischen Diskurs, den führt Virilio ganz allein - in einer von Andrei Ujica entworfenen Installation: Im Zentrum der ganzen Schau betreten wir einen pechschwarzen Raum, wo wir durch einen Sehschlitz auf den Philosophen hinunterblicken, der sich da von Svetlana Alexievitch befragen lässt. Von oben gefilmt, sehen wir sie hin und her schreiten, wie einst die Schüler Platons in der Stoa über dem Grab des bedauernswerten Helden Akademos - mit dem einzigen Unterschied vielleicht, dass Virilio nicht aufhört, seine Gesprächspartnerin beim Arm zu packen, sie in die rechte Richtung zu ziehen und zu drehen.
In die rechte Richtung soll auch der Ausstellungsbesucher gezogen werden, mit Virilio sollen wir auf Erlösung in der Regression hoffen. Auch die Fondation «hofft», wie es im Pressepapier heisst, dass mit dieser Ausstellung «ein Bewusstsein für die Risiken geschaffen wird, denen unser Planet am Anfang des 21. Jahrhunderts ausgesetzt ist». Aber haben wir wirklich auf diese Ausstellung warten müssen, um ein Bewusstsein für diese Risiken zu entwickeln? Eine solche, für den Kunstbereich leider typische Sinnrhetorik ist das eine. Problematischer ist, dass sich die Kunst hier in einem seltenen Ausmass hat instrumentalisieren lassen - zur Illustration einer im Grunde doch überaus banalen, mit allerlei christlich-eschatologischen Versatzstücken aufpolierten These vom selbst bewirkten Untergang der modernen Welt. Eine These, der ausserdem eine Simplifizierung innewohnt, die wirklich zu denken gibt: Indem Virilio keinen Unterschied macht zwischen dem Entgleisen eines Zuges und dem elektrischen Stuhl, zwischen Tschernobyl und dem 11. September in New York, bringt er menschliches oder technisches Versagen und menschliche Absicht auf einer Ebene zusammen. Das heisst letztlich, dass unsere Welt für Virilio nur ein technisches und kein gesellschaftliches Problem hat. Genau bedacht, ist das ein Weg, sich vor der Verantwortung als Philosoph zu drücken.

Ce qui arrive. Paris, Fondation Cartier pour l'art contemporain. Bis 30. März. Katalog _ 45.-.



erschienen in NZZ, FEUILLETON, 3. Januar 2003 Nr. 1 25