Samuel Herzog

Im Fuchsbau der Bedeutungen

Laurie Anderson im Irish Museum of Modern Art

Die amerikanische Multimediakünstlerin Laurie Anderson arbeitet an einem äusserst heterogenen Werk, in dessen Zentrum aber immer das Prinzip der Erzählung steht. Eine dichte Ausstellung in Dublin blickt auf dreissig Schaffensjahre zurück.
«Work, work, work. Immer nur Arbeit. Ach herrje. Das interessiert doch keinen. Was für ein Trottel. Vielleicht sollte ich etwas essen. Shit. Also das soll nun Kunst sein.» Ohne Unterbruch bewegt sich der Schnabel, und pausenlos quellen die Worte aus diesem Papagei hervor - gerade so, wie sie ihm in den Sinn zu kommen scheinen, wie in einem unkonzentrierten Selbstgespräch vielleicht, ohne Rücksicht auf Grenzen der Verständlichkeit oder Logik, direkt und unverblümt. Schneeweiss hockt die mit Elektronik vollgestopfte Skulptur auf ihrem Stängelchen und ist weit davon entfernt, Paradiesesvogel zu sein - eher schon erinnert «The Parrot» an einen griesgrämigen Abwart, der schon etwas zu lange über das gleiche Schulhaus wacht. Um ihn herum schwarze Wände, auf denen sich in ähnlich assoziativer Art kreideweisse Sätze, Worte und Zeichnungen aneinander reihen, Fleischklösse in Weingläsern schwimmen und Honoré de Balzac im Schnellgang über den Schwanensee treibt.

Ideale Bedingungen

Diese Art des Erzählens ist typisch für die amerikanische Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson, die derzeit in Dublin mit einer grossangelegten Ausstellung geehrt wird. «Laurie Anderson - The Record of the Time» dokumentiert mit rund achtzig Installationen, Zeichnungen, Fotos und Objekten die Entwicklung der Künstlerin von den frühen siebziger Jahren bis in unsere Tage hinein. Die Schau wurde erstmals vor vier Jahren im Musée d'Art Contemporain von Lyon gezeigt und war seither in immer wieder neuer Form in verschiedenen Häusern Europas zu sehen. Im Irish Museum of Modern Art (IMMA) nun aber hat diese Retrospektive eine ganz besondere Dichte bekommen. Das hängt vor allem auch mit dem Ort zusammen: Das IMMA ist in einem ehemaligen Militärspital aus dem 17. Jahrhundert eingerichtet - einem riesigen Gebäude mit lauter Korridoren und eher kleinen Räumen, die rund um einen grossen Innenhof angelegt sind. Das prächtige Bauwerk, das dem Pariser Hôtel des Invalides nachempfunden ist, liegt etwas ausserhalb des Zentrums von Dublin unmittelbar hinter dem weitläufigen Areal von Guinness' St. James's Gate Brewery, wo seit 1759 Irlands schwarzes Nationalgetränk gebraut wird. Für viele Ausstellungsprojekte dürften die kleinen Räume nachteilig sein: Für das Werk von Laurie Anderson aber sind sie geradezu ideal.
Wer die Ausstellung betritt, wird von unzähligen Geräuschen empfangen. Sie dringen aus Objekten aller Art, werden von modifizierten Musikinstrumenten hergestellt oder von der Künstlerin in Videofilmen auf multiple Weise produziert. Doch nicht nur die Töne reichen von Raum zu Raum: In einem grossen Teil der Ausstellung sind die Wände schwarz bemalt und wie beim «Parrot» mit zahllosen Kreidezeichen übersät, die den Besucher auf der Spur von kleinen Geschichten ständig von Raum zu Raum schlüpfen lassen. Wo die Ausstellung beginnt und wo sie endet, lässt sich nicht sagen, alles scheint mit allem verbunden - ein Fuchsbau der Geschichten und Töne.
Da gibt es ganz frühe Arbeiten zu sehen, zum Beispiel Fotos und Dokumente der Performance «Duets on Ice»: In Schlittschuhen, die in Eisblöcken feststeckten, spielte Laurie Anderson in den Strassen von New York oder Genua auf einer modifizierten Geige, in der ein kleiner Lautsprecher eingebaut war, der ab Band eine zweite Geigenstimme hören liess. Sie spielte so lange, bis das Eis geschmolzen war und sie auf den Kufen das Gleichgewicht verlor. Die Geige kommt in der Ausstellung immer wieder vor - mal ist sie mit einem Plattenspieler zu einer kuriosen Jukebox verbunden («Viophonograph»), mal produziert sie mit Hilfe eines Tonbandbogens seltsame Geräusche («Tape Bow Violin»).

Ohne Selbstverständlichkeit

Viele Arbeiten von Laurie Anderson sind so beschaffen, dass sie sich uns nur dann erschliessen, wenn wir uns ganz alleine auf sie einlassen. Zum Beispiel das «Talking Pillow» - ein weisses Kissen, auf das wir unser Ohr pressen müssen, um eine kleine Geschichte zu hören. Oder die «Handphone Table», ein Holztisch mit unsichtbarer Elektronik: Wir sind eingeladen, unsere Ellbogen in kleine Mulden auf dem Tisch zu setzen und unsere Hände an die Ohren zu legen. Vermittelt durch unsere Knochen hören wir so eine Musik - selten wird so deutlich, dass auch unser Körper ein Medium ist.
Ob Laurie Anderson nun Texte schreibt oder ihren Kopf als Trommel braucht, ob sie singt und tanzt oder bizarre Objekte bastelt, ob sie sich selber als kleines Männchen klont oder Träume ihrer Freunde zu einer Rauminstallation verarbeitet, stets hat sie uns etwas zu erzählen. Auch die elektronischen Medien sind ihr dabei meistens nur Mittel zum Zweck. Und doch erzählt Laurie Anderson nicht Geschichten im herkömmlichen Sinn: Vielmehr kreisen ihre Erzählungen in manchmal auch durchaus gegenläufigen Schlaufen um einzelne Worte oder Phrasen, Bilder oder Konzepte. Oft wirkt das so, als hätte zum Beispiel ein einzelnes Wort plötzlich seine Selbstverständlichkeit verloren und gleichzeitig ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten dazugewonnen.
Wie das funktionieren könnte, kann man experimentell selbst nachvollziehen: Man wähle ein beliebiges Wort, spreche es sich wiederholt mit grösster Aufmerksamkeit vor (ganz, als verkoste man einen ehrwürdigen Wein am Gaumen) und frage sich dabei hartnäckig, was es denn genau bedeute. Irgendwann gibt das Wort seine Selbstverständlichkeit auf und tönt fremd - fremd wie ein Meteorit, der aus einer anderen Sprachgalaxie in die Atmosphäre unserer Logik eingebrochen ist (und uns trotzdem irgendwie vertraut vorkommt). Gleichzeitig mit dem neuen Ton aber beginnt sich das Wort auch mit neuen Gedanken und Bildern zu verknüpfen. Genau da setzen die Erzählungen von Laurie Anderson an. Eins zu eins lässt sich das einem Publikum natürlich nicht vermitteln. Mit den Erzählungen geht daher auch immer die Aufforderung an die Besucher einher, sich aus dem überreichen Angebot das zu nehmen, was sie für ihre eigene Welt, ihr eigenes Gedankenkonzert verwenden können - den Rest darf man getrost verblassen lassen.


Laurie Anderson: The Record of the Time. Irish Museum of Modern Art, Dublin. Bis 2. Mai.



erschienen in NZZ, Donnerstag, 24.02.2005 / 45