Rot, blau und gelb rauschen die Farben über die Leinwand. Als wären es nächtliche Erscheinungen, quellen bunte Figuren aus dem dunklen Grund der Malerei hervor. Manchmal scheint es, als seien diese Wesen aus Versehen in der Mitte des Bildes zusammengeprallt - wie bei einer nächtlichen Karambolage. Und manchmal kommen uns diese Figuren auch wie Schauspieler vor, die mit Wucht auf die Bühne getreten sind - ihren Text aber haben sie vergessen, und also bleibt es bei der Geste. Oder sind sie bloss im falschen Stück? Tritt da Othello an, Mutter Courage das Fürchten zu lehren - schiesst Wilhelm Tell auf die Frösche von Aischylos? In den Bildern von Karel Appel sind die Gebärden jederzeit wuchtig - was aber gespielt wird, bleibt ganz unserer Spekulation überlassen. Nun ist der Niederländer im Alter von 85 Jahren an seinem letzten Wohnort in Zürich gestorben.
Karel Appel kam 1921 in Amsterdam zur Welt, wo er die Akademie der bildenden Künste besuchte. 1950 übersiedelte er nach Paris, später nach New York. Es gibt kaum ein Museum in Europa, das nicht mindestens ein Werk von Appel besitzt - ausserdem zieren seine Gemälde auch manche Fassade, finden sich seine ebenso ausufernden wie farbenfrohen Plastiken aus verschiedensten Materialien auf zahlreichen öffentlichen Plätzen.
Berühmt wurde Appel vor allem als ein Mitglied der dänisch-belgisch-niederländischen Künstlergruppe «Cobra», deren Name sich aus den Anfangsbuchstaben der drei Hauptstädte Kopenhagen, Brüssel und Amsterdam zusammensetzt. Diese Gruppe bestand zwar kaum drei Jahre (1948 bis 1951) - ihr Name hat sich jedoch fest in die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit eingeschrieben. Was die Gruppe einte, war das Verständnis von Kunst als einer «Waffe des Geistes» und der Wunsch nach unmittelbarerem Ausdruck. Das Unbewusste sollte sich, so lautete das Programm, ohne Zensur durch den Intellekt direkt in den Bildern äussern. Darin war «Cobra» auch ganz «informell», stets auf der Suche nach der «Bedeutsamkeit des Formlosen» (Michel Tapié). Im Unterschied zu anderen informellen Richtungen jener Jahre wie dem Tachismus oder dem Action-Painting aber schloss «Cobra» figürliche Darstellungen nicht aus. Gegenständliches sollte zwar nie das Ziel der Malerei sein - aber wenn sich beim «Malen ohne vorgeschaltetes Denken» (Appel) Figuren fanden, wenn sie sich beim spontanen Akt des Gestaltens aufdrängten, dann war das durchaus in ihrem Sinne.
Karel Appel ist den Prinzipien von «Cobra» sein Leben lang treu geblieben. Auch haben sich den Pinseln, Messern und Fingern, mit denen er seine pastos angemischte Farbe auf die Leinwand zauberte, immer wieder Figuren aufgedrängt. Und so gibt es kaum ein Werk des Künstlers, auf dem sich nicht irgendwelche bizarren Gestalten tummeln - manche gleichen Menschen, andere eher Tieren oder seltsamen Mischwesen. Appels Bilder sind gemalte Lieder ohne Worte: Stimmen scheinen in ihnen omnipräsent - und doch ist nie recht zu verstehen, was sie singen.
Nehmen wir zum Beispiel Gemälde wie «Hiep, hiep, hoera» oder «Mens en dieren», die beide 1949 in der «Cobra»-Zeit entstanden. Knallbunt und ein wenig verwirrt wie Aliens, die in friedlicher Mission auf einer Kinderparty gelandet sind und nun mit Wasserpistolen beschossen werden, treten die Figuren da vor einem schwarzen Hintergrund an. Sie scheinen uns zuzuwinken - ganz als wollten sie uns auf etwas aufmerksam machen. Einerseits wirken sie fröhlich - andererseits sind ihre Köpfe und Leiber so rudimentär, dass die Existenz der Figuren bald gebrochen erscheint. Ihr Winken wird so zur mahnenden Geste, zur Erinnerung an einen Traum, der im Wachen seltsam nachwirkt und uns das Leben ein wenig fremd erscheinen lässt.
erschienen in NZZ, Samstag, 06.05.2006 / 50