Die Provence hat schon viele verzaubert. Wer sie durchwandert, durchreitet oder mit dem Fahrrad durchfährt, sehnt sich dann und wann nach einer Muse, die ihm Aquarellkasten, Pinsel und Büttenpapier in den Schoss legt. Und während einem der Mistral warm durch die Haare fegt, legt man mit grosser Geste und einem Lavendelzweig im Mundwinkel los, eine künstlerische Antwort auf die Schönheit der Landschaft zu gestalten, ihrem Licht mit der Leuchtkraft der Kunst entgegenzustrahlen. Welche Spätfolgen solche Verzauberung hat, wird regelmässig in Aquarellkursen demonstriert, die in der Provence noch häufiger angeboten werden als Skikurse in den Alpen.
Aber auch den Profis fiel das «Malen in der Provence» ganz und gar nicht leicht - das illustriert derzeit eine Ausstellung im Musée Granet von Aix-en-Provence, die Paul Cézanne gewidmet ist, dem wohl berühmtesten Sohn dieser Stadt mit ihren klassizistischen Fassaden und ihrem Aroma von Flanerie und Mittagsschläfchen. Cézanne verbrachte den grössten Teil seines Lebens in der Umgebung von Aix - und hier starb er auch, am 23. Oktober 1906 im Alter von 67 Jahren. Die Schau zum hundertsten Todestag des Künstlers war noch bis in den Mai hinein in der National Gallery von Washington zu sehen - mit ihren mehr als hundert Werken aus allen Museen dieser Welt kann sie als der unbestrittene Höhepunkt dieses Cézanne-Jahrs gelten.
«Cézanne en Provence» ist die erste namhafte Ausstellung, die sich dem Verhältnis zwischen dem Maler und seiner Heimat widmet. Das erstaunt - ist die Landschaft rund um Aix doch das grosse Thema in seiner Kunst. Entsprechend wirkt die Gliederung der Schau nach den verschiedenen Orten von Cézannes Bildern auch vollkommen einleuchtend. Da gibt es zunächst Bilder vom Landsitz Jas de Bouffan, den Cézannes Vater 1859 erwirbt.
L'Estaque, ein kleiner Hafen in der Bucht von Marseille, führt 1870/71 - vielleicht als eine Reaktion auf den französisch-preussischen Krieg - zu eher nervösen bis fast schon chaotischen Kompositionen. Im Dörfchen Gardanne und auf dem Hügelchen von Bellevue lichtet sich seine Palette wenig später auf. In einer unfertigen Ansicht von Gardanne (um 1886) wird sichtbar, wie Cézanne beim Malen vorgeht, wie er direkt mit dem Pinsel die groben Formen auf der Leinwand skizziert, um alsdann feine Striche zu Gruppen zu ordnen, die schliesslich einen Baum, ein Dach oder einen Hügel bedeuten. Die Landschaft wird hier nicht zeichnerisch konstruiert, sondern direkt mit der Farbe geschaffen. Auch gibt es keinen klar bestimmbaren Punkt, aus dem heraus sich das Gemälde entwickeln würde: Die Landschaft entsteht überall zugleich, ihre Elemente finden sich zuerst als einzelne Eindrücke ein, um erst hernach vielleicht verbunden zu werden.
Das gilt auch für die Gemälde der Ruine Château Noir und die Bilder des charismatischen Steinbruchs von Bibémus, die nach 1890 entstehen. Und es gilt für die zahllosen Porträts des Mont Sainte-Victoire, der sich als eine Art Leitmotiv der letzten gut zwanzig Jahre von Cézannes Schaffen präsentiert. «Quel beau motif», schwärmte der Maler schon 1878 in einem Brief an den Jugendfreund Emile Zola. So unterschiedlich diese Bilder auch sind - stets sehen wir am Horizont das markante Dreieck des Berges als eine ruhige, geometrische Form. Und davor breitet sich über zwei Dritteln der Bildfläche eine Ebene aus, die als ein überaus komplexes, visuelles Ereignis erscheint. Im Unterschied etwa zu der beschriebenen Ansicht von Gardanne verbinden sich die einzelnen Elemente nämlich hier oft nicht mehr zu einem Ganzen, wird uns der Blick auf das Tal verweigert zugunsten einer Darstellung der überforderten Wahrnehmung angesichts eines solchen Reichtums farbiger Reize - eine moderne Erfahrung zweifellos.
1901 baut sich Cézanne ein Atelier etwas ausserhalb von Aix-en-Provence, das er von 1902 bis 1906 bewohnt. Aus dem Todesjahr hat sich ein unfertiges Bild des «Jardin des Lauves» erhalten: eine Komposition aus Farbtupfern, die sich kaum mehr mit einer Landschaft assoziieren lässt. Im Oktober des Vorjahres schrieb Cézanne an Emile Bernard: «Les sensations colorantes qui donnent la lumière sont chez moi cause d'abstractions qui ne me permettent pas de couvrir ma toile [...]; d'où il ressort que mon image ou tableau est incomplète.» Der nächste Schritt hätte den Maler Cézanne logischerweise in die völlige Abstraktion führen müssen. Doch das hätte dem Menschen Cézanne wohl nicht gepasst. Denn auch wenn Cézanne den Prozess des Gestaltens beobachtete, seine eigene Arbeit und seinen Blick analysierte, auch wenn er ein Maler für Maler war, wie es so oft heisst - zur autonomen Geste wurde ihm das Malen nie. Denn Cézanne malte vor allem auch, weil er die Landschaft liebte, die er zur Protagonistin seiner Bilder erhob - daran lässt die Ausstellung in Aix uns in keinem Moment zweifeln.
Ja, Cézanne war ein veritabler Fan dieser Landschaft: «Quand on est né là-bas, c'est foutu, rien ne vous dit plus», schrieb er 1896 in einem Brief an Philippe Solari. Doch Cézanne war kein Genie, dem die Muse alles in die Wiege gelegt hätte. Frühe Bilder wie «La Route tournante en Provence» von 1866 oder «Paysage à l'oratoire» von 1865 zeigen, wie schwer er sich zu Anfang tat, den Reizen seiner Heimat mit Pinsel und Farbe entgegenzutreten. Und doch musste er eine Lösung finden, die es ihm gestattete, seiner Faszination für die Heimat malend Ausdruck zu verleihen, seinem Sein in dieser Landschaft Sinn zu geben. Er fand eine Lösung letztlich darin, dass er zugleich mit dem Motiv auch die materielle und konstruktive Realität der Malerei sichtbar werden liess: Pinsel, Strich, Farbe, Leinwand und Komposition.
Wenn er 1902 bis 1906 nochmals «La route tournante» malt, dann schafft er im Unterschied zu dem Bild von 1866 damit eigentlich kein Abbild der Landschaft mehr. Vielmehr breitet er vor unserem Auge eine Art Beschreibung aus, ein Gedicht, dessen Konstruktion aus Einzelelementen offenliegt - einen Gedanken vielleicht auch, formuliert mit den Mitteln, mit dem Vokabular der Malerei. In Aix wird das Ringen des Künstlers um die richtige Formulierung eindrücklich vorgeführt. Verzaubert von dieser Landschaft, hat Cézanne Bild für Bild nach einem gleichermassen eigenen wie universell gültigen System gesucht, den «sensations» mit dem Pinsel zu entsprechen, nach einer Art Alphabet der Provence vielleicht, nach einer Formel, nach dem Cézanne-Code. Gefunden hat er diesen Code ganz offensichtlich nicht. Allem Fleiss zum Trotz ist er wohl gescheitert, auf grossartige Weise allerdings.
Cézanne en Provence. Musée Granet. Bis 17. September 2006.
erschienen in NZZ, Samstag, 24.06.2006 / 65