Samuel Herzog

Abenteuer Fruchtpastete

Stillleben von Pieter Claesz im Kunsthaus Zürich

Sie sind überaus kulinarisch, ohne uns wirklich hungrig zu machen: die Stillleben von Pieter Claesz. Knapp fünfzig Bilder dieses Holländers aus dem «Goldenen Zeitalter» gibt es nun im Kunsthaus Zürich zu bestaunen - eine Gelegenheit, nahe heranzutreten.
«Der Schinken ist tot - es lebe der Schinken», so könnte man einen Text zu den knapp fünfzig Stillleben des Holländers Pieter Claesz (1597-1660) beginnen, die derzeit in den historisch renovierten Sammlungsräumen des Zürcher Kunsthauses zu bestaunen sind. Die Ausstellung macht zunächst einmal deutlich, dass sich unser Bild von dem, was wir als frisches und gesundes Essen anzusehen bereit sind, in den letzten Jahrzehnten doch ganz erheblich verändert hat. Unser Auge hat sich längst an das ewig knackige Gemüse und den perlfrisch saftigen Prosciutto in den künstlichen Inszenierungen professioneller Food-Fotografen gewöhnt - folglich sendet unser Kopf etwa beim Anblick von «Imbiss mit grossem gekochtem Schinken, Senftöpfchen und Brotscheiben» (1632) eher ungünstige Signale an die Magengegend. Und die Käselaibe, die da und dort vollfett ins Bild gerückt sind, erinnern einen schnell einmal an die letzte Reise nach Korsika und das Grinsen jener Bäuerin, die den immer bleicher werdenden Touristen auf dem Markt von Ajaccio ihren «Fromage avec habitants» schmackhaft machen wollte.

Der Esstisch als Bühne

Nein, das Wasser läuft einem nicht wirklich im Mund zusammen beim Anblick dieser Bilder. Dafür aber beginnen vielleicht bald einmal die Augen zu tränen - vor lauter Schaulust, denn zu entdecken gibt es auf diesen eher kleinen Gemälden schier unendlich viel. An den dargestellten Gegenständen selbst liegt das nicht - denn das Repertoire ist eher klein: Immer wieder tauchen dieselben Messer auf, dasselbe Glas (ein grosser Römer), dieselben metallenen Teller, die gleiche Keramik, das gleiche Salzgefäss und dasselbige kleine Tütchen mit Pfeffer. Doch damit nicht genug, auch bei den verderblichen Waren bleibt sich der Künstler treu: immer wieder das gleiche Brot, meist auch noch ähnlich aufgeschnitten, dieselbe Zitrone mit halb gepellter Schale - und vor allem auch immer wieder die gleiche Früchtepastete, in ganz ähnlicher Weise aufgebrochen. 1623, 1625, 1627, 1630 und auch noch 1637 taucht sie prominent im Bilde auf.
Entweder hatte Pieter Claesz fünfzehn Jahre lang dieselbe Köchin - oder aber es ging im vielleicht gar nicht primär darum, einen kulinarischen Alltag abzubilden. Sehen wir von der Köchinnen-Hypothese ab, dann bleibt uns nichts anders übrig, als hier ein freies Spiel mit Dingen zu sehen, die wie Requisiten und Schauspieler auf der Bühne des Tisches in Szene gesetzt sind. Gerade diese Inszenierungen aber sind es, die das Betrachten dieser Bilder so vergnüglich machen. Es kommt nicht so sehr darauf an, was gezeigt wird, sondern wie: Wie liegen oder stehen die Dinge auf dem Tisch? Wie bricht sich das Licht auf welcher Oberfläche? Was liegt im Schatten und was im Licht? Was ist angeknabbert und was nicht? Wie huscht der Blick durchs Bild? Welchen Dingen begegnet er zuerst? Was bestimmt die Atmosphäre? Was wirkt natürlich und was inszeniert?
Nehmen wir zum Beispiel den «Imbiss mit Schweinerippenstück und Käsekorb» von 1625. Vielleicht sind es die kleinen Würstchen, die uns zuerst auffallen - sie stammen aus einer Zeit, als derartige Fleischwaren noch ohne Zugabe von Vitamin C hergestellt wurden, entsprechend grau liegen sie da. Kunstvoller sind da die Brosamen, die wie zufällig über den Teller verteilt sind - warum finden sich keine Krümel auf dem Tisch, wo doch das Brot selbst liegt? Und warum balanciert der Teller mit den Käsestückchen auf dem Rand des Käsekorbs - konnte er an keinem anderen Ort im Bild einen Platz finden? Hat da einer herumgespielt - oder wird gleich abgeräumt? Und was spiegelt sich denn in dem mit Weisswein gefüllten Römerglas: Ist es die Küche des Künstlers oder sein Atelier? Und da, im Glanz des Senftöpfchens, steht da nicht dunkel eine aufrechte Figur? Vielleicht ein Porträt des Künstlers? Oder doch das Bild seiner Köchin?
Spiegelungen spielen übrigens in fast allen Bildern von Claesz eine wichtige Rolle. Bei weitem nicht nur in dem «Vanitas-Stillleben mit Geige und Glaskugel» von 1826, wo wir auf der reflektierenden Oberfläche der Kugel den Maler an der Staffelei erkennen - ein Zitat wohl nach Jan van Eycks berühmter Arnolfini-Hochzeit, wo sich der Künstler in einem Rundspiegel selbst mit verewigt hat. Eine besonders stimmungsreiche Spiegelung findet sich auch auf dem «Bücher-Stillleben mit brennender Kerze» von 1627: Die ganze Szenerie mit niedergebrannter Kerze, Dochtschere, Büchern und Brille wird hier auf geheimnisvolle Weise in dem zur Hälfte mit Wein gefüllten Glas verdoppelt, eine Vision fast, eine düstere Prophezeiung.

Symbole und Andeutungen

Die Bilder von Pieter Claesz erzählen viel - ohne wirklich etwas zu verraten. Sieht man von den diversen Symbolen ab, die da und dort im Bild auftauchen (vor allem in den Vanitas-Stillleben), kommt die Bedeutung oft nur über die Andeutung ins Spiel. So sind wir als Detektive gefordert, uns unsere eigenen kulinarischen Krimis auszudenken, den Dingen ihre kleinen, geheimen Geschichten zu entlocken - oder auch anzudichten.
Und also tauchen wir gleichsam mit der Lupe ein in diese Welt, die sich ganz und gar selbst gefällt, die weder bei Kirche noch Staat in irgendeinem Dienste steht. Denn das Stillleben ist eigentlich die erste Gattung, mit der die Kunst ihre Autonomie behauptet - eine Autonomie, ohne die sich die Geschichte der künstlerischen Moderne wohl ganz anders geschrieben hätte. Und Pieter Claesz kann als der «Gründungsvater des Stilllebens als Kunst» angesehen werden, wie Kurator Christian Klemm anlässlich der Pressekonferenz betonte. Er und seine Köchin natürlich.


Pieter Claesz - Stillleben im Goldenen Zeitalter. Kunsthaus Zürich. Bis 21. August. Katalog Fr. 54.-.




erschienen in NZZ, Samstag, 23.04.2005 / 47