In den Filmen von Tacita Dean geht es uns ein wenig wie im Leben. Wir sitzen da, die Zeit vergeht - es ist auch nicht uninteressant. Was uns aber antreibt, ist die Erwartung, dass das Eigentliche erst noch kommt: die Geschichte, das Abenteuer, das wahre Leben. Vieles, was wir tun, ist, unter einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, immer auch eine Vorbereitung auf das, was da noch kommen soll. Und wenn zwischendurch plötzlich deutlich wird, dass da wohl nichts mehr kommt, stürzt uns das regelmässig in eine Krise.
Im Schaulager bei Münchenstein haben wir derzeit ausgiebig Gelegenheit, uns mit solchen Fragen zu beschäftigen. Denn die Institution führt in ihrer vierten Sommerausstellung ein gutes Dutzend Filme der in Berlin lebenden Künstlerin aus Canterbury vor - ergänzt durch einige Arbeiten in anderen Medien, namentlich Kreidezeichnungen auf schwarzem Papier (sogenannte «Blackboard Drawings»), die oft in engem Zusammenhang mit den Filmprojekten stehen. Nebst den Werken von Tacita Dean gibt es Zeichnungen und leicht surrealistisch angehauchte Malereien von Francis Alÿs zu sehen. Einige dieser Bilder hat der in Mexiko lebende Belgier durch professionelle «Rotulistas» (Schildermaler) ausführen lassen, wodurch er die Frage nach Original und Kopie stellt sowie die «Mechanismen des Kunstmarkts und seiner Rollenverteilungen befragt», wie es in den Presseunterlagen heisst.
Nach Ausstellungen mit Dieter Roth, Jeff Wall und Herzog & de Meuron in den letzten drei Jahren bleibt die Institution mit der jetzigen Schau ihrem Konzept treu, etablierte Positionen des zeitgenössischen Betriebs im Rahmen überaus aufwendiger Einzelausstellungen vorzuführen. Ausserdem hat Theodora Vischer, die Direktorin des Schaulagers, auch bereits Erfahrung im Umgang mit dem Werk von Tacita Dean, das ja nicht ganz einfach auszustellen ist - hat sie die Künstlerin doch bereits im Jahr 2000 im Basler Museum für Gegenwartskunst in einer grossen Soloschau präsentiert.
Damals schon spielte der analoge Film die zentrale Rolle im Werk von Tacita Dean - und daran hat sich bis heute nichts geändert. Arbeitet die Künstlerin doch fast ausschliesslich mit diesem Medium, voller Vertrauen in die Wirkung seiner Materialität. Darüber hinaus stellt sie in vielen Arbeiten auch diverse Bezüge zum Kino und zu seiner Geschichte her.
Das gilt auch für ihre jüngste Arbeit mit dem Titel «Kodak», die in Münchenstein Premiere feiert. Dean hat die 44 Minuten für diesen Film in der Fabrik von Kodak Industries in Chalon-sur-Saône gedreht. Bis in den vergangenen Herbst hinein wurden da all die Produkte hergestellt, aus denen die farbige Kodak-Welt einst bestand. Unterdessen werden nur noch Filme für Röntgenaufnahmen produziert. Dean inszeniert ihren grossen Abgesang auf den kleinen Film in ruhigen Bildern. Lange, sehr lange hält sie die unbewegte Kamera auf vor sich hin ratternde Maschinen, auf düster beleuchtete Gänge, auf in ihrer Zusammenhanglosigkeit bizarr wirkende Details. Der Film ist das pure Gegenteil einer Einführung in die Produktionsabläufe der Firma Kodak. Vielmehr lassen die Bilder vor unserem Auge eine Welt entstehen, die überaus geheimnisvoll, fast ein wenig unheimlich ist. In der Schilderung von Tacita Dean sieht die Kodak-Fabrik einer verlassenen Raumstation ähnlicher als einem Ort, wo Menschen täglich ihr Brot verdienen. Selbst die Produktionsmaschinen laufen hier scheinbar sinn- und zwecklos vor sich hin - als rein ästhetische Ereignisse, die mit keinerlei Absicht verbunden sind.
Das Fehlen einer zielgerichteten Aktion und der Verzicht auf jede Narration aber schaffen die erwähnte Atmosphäre der Erwartung. Von Bild zu Bild wird sie stärker - und nichts geschieht. Das gilt für beinahe alle Filme von Tacita Dean: Ob wir nun mit ihr das Drehrestaurant im Berliner Fernsehturm betreten («Fernsehturm», 2000), die Spiegelungen im Palast der Republik beobachten («Palast», 2004) oder eine Stunde lang mit fünf Schwestern durch einen irischen «convent» spazieren («Presentation Sisters», 2005) - stets werden Erwartungen geschürt. Auch in der Installation «Boots» (2003), die aus drei Filmen besteht, wird uns die Erzählung verweigert: Zwar murmelt der alte Mann, der da durch die charismatischen Räume der Casa Serralves in Porto humpelt, immer wieder Sätze vor sich hin - abwechselnd in Französisch, Deutsch und Englisch. Eine eigene Geschichte aber kommt nicht zustande. Das erinnert gelegentlich an ganz bestimmte Momente in Filmen von Jacques Tati - an jene, in denen sich der Protagonist mitsamt der Geschichte aus den Bildern davongemacht zu haben scheint.
Manchmal kündigen die Titel von Tacita Dean ein Geschehen an: «Disappearance at Sea» etwa lässt Dramatisches erwarten. Zu sehen aber gibt es dann «nur» die charismatischen Bilder eines Leuchtturms am Abend, der plötzlich seine erhellende Arbeit aufnimmt. Auch die Bezüge zu den literarischen oder historischen Vorlagen, mit denen Tacita Dean gelegentlich arbeitet, werden in den Filmen selbst nie explizit. Im Hollywood-Kino ist das anders, da kommt die Story sofort, werden wir neunzig Minuten lang davon erlöst, das wahre Leben zu erwarten. Bei Tacita Dean wird uns keine Erlösung geboten - auch nicht auf Zeit. Die Starken unter uns nehmen das als eine Herausforderung an, die Sportlichen springen mit eigenen Assoziationen in die Bresche - die Schwachen aber leiden.
Tacita Dean - Analogue. Francis Alÿs - The Sign Painting Project. Schaulager Münchenstein. Bis 24. September 2006. Katalog.
erschienen in NZZ, Samstag, 13.05.2006 / 49