Samuel Herzog

Katerfrühstück an der Lagune

Die 51. Kunstbiennale von Venedig

Sie ist die älteste und berühmteste Veranstaltung ihrer Art: die Kunstbiennale von Venedig. Nach Jahren der ständigen Expansion und Universalisierung tritt die Veranstaltung mit ihrer 51. Ausgabe in eine Phase der Besinnung ein.
Das ist das Ende. Zwei Ruderboote schaukeln auf dem Wasser, Bug an Bug, ohne Besatzung, ohne Namen - und wenn die Sonne untergeht, dann senden sie sich zärtlich Lichtsignale zu. Das ist das Ende dieser 51. Biennale, die letzte Arbeit zuhinterst im Arsenale - ein Ende, das man schnell einmal erreicht, denn verglichen mit der Jubiläumsausgabe vor zwei Jahren ist die derzeitige Schau geradezu bescheiden und übersichtlich.

Grösser, universaler, mehr

«Enamorados» nennt die Brasilianerin Laura Belém ihr Werk. Man könnte diese Boote allerdings auch als ein Sinnbild der gegenwärtigen Situation der Biennale von Venedig ansehen. Die letzten Ausgaben dieses Events waren von einer Art Rausch geprägt: Immer mehr, immer grösser, immer universaler oder zumindest enzyklopädischer, lautete die Devise. Harald Szeemann überraschte 1999 mit einer Flut von chinesischer Kunst, wie sie Europa noch nie zuvor gesehen hatte. 2001 servierte er ein ganzes «Plateau der Menschheit» - eine artistisch-spirituelle Gesamtweltausstellung. Mit Gesten von dieser Grössenordnung konnte der Leiter der Biennale von 2003 nicht mithalten - Francesco Bonami versuchte es stattdessen mit der Masse, heuerte eine ganze Truppe von Co-Kuratoren an und liess die Künstler in Scharen durch die Lagunenstadt toben. Die Sache überforderte das Publikum genauso wie die Kritik.
Es war also Zeit für «la mamma», diese Mutter aller Biennalen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich neu zu definieren. Dieser Prozess hat begonnen. Er äussert sich zunächst darin, dass man den Kuratoren künftig mehr Zeit geben will, den Grossanlass vorzubereiten. Dan Cameron, der die Biennale von 2007 leiten wird, ist schon seit einem halben Jahr im Amt. Von ihm darf man erwarten, dass er erforscht und ausarbeitet, in welche Richtung sich die Biennale künftig entwickeln soll.
Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch klar, dass man von der jetzigen Biennale nicht allzu viel erwarten darf. Diese 51. Ausgabe ist eine Biennale des Übergangs oder vielmehr noch vielleicht eine Biennale des Endes, da sie die Zeiten des Rausches beschliesst. Die «BV 51» ist das Katerfrühstück, durch dessen Verzehr man zu Besinnung und Nüchternheit zu gelangen hofft - und wenn man den Anlass unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, dann ist er auch recht gut gelungen. - Immerhin sind es zum ersten Mal in der Geschichte der Biennale zwei Frauen, die das Geschick der Kunst am Canal Grande bestimmen: María de Corral aus Madrid und Rosa Martinez aus Barcelona. Sie haben im Rahmen der Biennale jeweils eine eigene Ausstellung kuratiert.
Die deutlich schönere Schau hat Rosa Martinez im Arsenale zusammengestellt. Wobei man den Titel auch programmatisch verstehen könnte: In Abgrenzung zur Kategorie «Plateau der Menschheit» dürfte Martinez' «Sempre un po' più lontano» aus der Einsicht resultieren, dass auch eine solche Grossausstellung uns höchstens ein kleines Schrittchen weiterbringt.
Die Schau beginnt, nicht ganz ohne Augenzwinkern wohl, mit einem reinen Frauen-Raum. Von der hohen Decke bis fast zum Boden hängt da ein gigantischer Lüster, dessen vermeintliche Glasperlen sich bei genauerem Hinsehen als Tampons entpuppen - 14 000 kleine Wattezäpfchen, von Joana Vasconcelos aus Portugal regelmässig aneinander gereiht. An den Wänden durften die New Yorker Guerilla Girls einige ihrer feministischen Protestposter aufhängen.
Nach einem solchen Auftakt muss man als Kuratorin natürlich aufpassen, da mancher Besucher nachzählen wird. Rosa Martinez hat aufgepasst - gut die Hälfte aller Arbeiten stammt von Frauen. Runa Islam aus Bangladesh etwa zeigt ein Video, auf dem in dramatischer Langsamkeit und mit cinematographischer Perfektion ein kostbares Teegeschirr in die ewigen Jagdgründe des Porzellans befördert wird. Ähnlich theatralisch sind auch die lebensgrossen Holzfiguren, die bei Paloma Varga Weisz aus Düsseldorf die ausgeklügeltsten Qualen an Kreuz und Galgen erleiden. Sie erinnern an Heilige, an Märtyrer - ohne dass wir sagen könnten, um welche Legende es genau geht. Auch das lebensgrosse Nilpferd von Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla aus Puerto Rico verfehlt seine Wirkung nicht - zumal auf dem Rücken des Tieres eine junge Frau sitzt und im «Corriere della Sera» liest. Wann immer sie in dem Blatt auf eine Ungerechtigkeit stösst, bläst sie in eine Trillerpfeife. Viel zu tun gäbe es auch bei Rivane Neuenschwander, die uns Schreibmaschinen zur Verfügung stellt, aus denen sie die Buchstabenköpfe entfernt hat. Die Brasilianerin will uns damit Gelegenheit geben, unsere Wünsche und Verwünschungen niederzuschreiben und an die Wand zu pinnen - für alle sichtbar und doch für niemanden zu verstehen. Im Zeitalter von Graffiti, Talkshows, Lach- und Heulklubs wahrlich eine sehr zarte Einladung, etwas von unseren Emotionen nach aussen zu tragen. - Vielleicht steigen wir da doch lieber in das futuristisch funkelnde Raumschiff von Mariko Mori aus Japan. Dafür müssten wir uns allerdings ihren Assistenten anvertrauen, die in ihren weissen Schürzen aussehen wie die Hygienetechniker einer industriellen Wursterei. Wenn wir uns von ihnen verkabeln liessen, so das Versprechen, dann kämen wir in dem Raumschiff liegend über kulturelle Grenzen hinweg mit anderen Menschen in Kontakt.

Spannungsvoller Parcours

So etwas Ähnliches sollte wohl auch in der Installation von María Teresa Hincapié de Zuluaga aus Kolumbien geschehen, die uns mit wolkigen Videobildern, brennenden Kerzen, Räucherstäbchen und weltmusikalischen Gitarrenklängen einzulullen versucht. - Mitleiden müssen wir auch bei der Ägypterin Ghada Amer: In ihrem «Ying Yang Garden» sollen uns zwei wellenförmige Pfade spüren lassen, was es heisst, wenn zwei Liebende sich weder physisch noch emotional erreichen können.
Unter den Männern fällt Pascale Marthine Tayou aus Kamerun auf, der eine aus Plastictüten gefertigte Kunstwolke über dem alten Militärhafen schweben lässt. Eine wirklich anregende Zeit verbringt man auch in der Installation des Argentiniers Sergio Vega. Er hat sich ausgemalt, was auch noch passieren könnte, wenn sich das Klima der Welt erwärmt - und entwirft das Szenario eines tropischen Paradieses zwischen Prähistorie und Popkultur.
Einige Werke in dieser Schau waren im letzten Halbjahr schon ganz ähnlich auf anderen Biennalen zu sehen. Trotzdem hat Rosa Martinez einen schönen Parcours zusammengestellt - selbst wenn es in der Inszenierung da und dort dramatische Löcher gibt, die alle Spannung absacken lassen.
In der Ausstellung von María de Corral im Padiglione d'Italia wäre man über solche Löcher geradezu froh - würden sie doch darauf hindeuten, dass es irgendeine Spannung gibt, die verloren gehen könnte. Aber «The Experience of Art» lässt einen von Raum zu Raum ratloser werden. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass der Padiglione d'Italia schwierig zu bespielen ist - selbst ein Meister-Inszenator wie Szeemann kam hier an seine Grenzen. Andererseits aber mag María de Corral an den Erwartungen der Biennaleleitung gescheitert sein, hier eine historische Ausstellung zu realisieren. Eine Erwartung, die sie bewusst nicht erfüllen wollte und doch irgendwie erfüllt hat, indem sie aus den berühmtesten Vertretern der Kunst der letzten sechzig Jahre einen durchwegs etablierten Zirkel formte. Die wenigen Ausnahmen wirken denn auch eher wie in letzter Minute ergriffene Notmassnahmen zur Auffrischung der Schau. Am ehesten erinnert diese «Kunsterfahrung» an den Gang durch manch kleinstädtisches Museum für moderne Kunst - alles ist da, nur eine eigene Linie fehlt. - Und dann gibt es natürlich auch noch die Länderpavillons: 71 sind es in diesem Jahr. So viel national-artistische Leistungsschau hat selbst die Besucher aus aller Welt gewohnte Lagunenstadt noch nie gesehen. Für den Schweizer Pavillon in den Giardini hat Stefan Banz eine Ausstellung mit Werken von Gianni Motti, Shahryar Nashat, Marco Poloni und Ingrid Wildli zusammengestellt. Und Pipilotti Rist lässt uns mittels Video, das sie auf das Deckengewölbe von San Staë projiziert, in ihre Welt der Blume abtauchen.
Insgesamt ist auch bei den Länderpavillons eine Tendenz spürbar, in Kunstmarkt und Ausstellungsbetrieb bereits gut positionierten Positionen (vulgo: Künstlern) den Vorzug zu geben. Auch das könnte man als das Ergebnis einer gewissen Ratlosigkeit interpretieren. Im Schlepptau der internationalen Ausstellung müssten also auch die Länder nach einem neuen Selbstverständnis suchen. Ein venezianisches Wunder braucht es nicht - sichtbare Veränderungen aber schon. So dass wir in zwei Jahren sagen können: Doch, das ist ein Anfang.




erschienen in NZZ, Feuilleton 11.06.2005 / 47