Sprung durch die Zeit
Der Ire Gerard Byrne zum Beispiel arbeitet mit Schauspielern. Dem Video «Homme à Femmes» etwa liegt ein Interview zugrunde, das eine junge Journalistin des «Nouvel Observateur» in den späten siebziger Jahren mit Jean-Paul Sartre geführt hat. Dabei ging es weder um Politik noch um Philosophie, sondern um Sartres Verhältnis zum weiblichen Geschlecht und insbesondere natürlich zu Simone de Beauvoir. Byrne stellt die Interviewsituation mit Hilfe eines Schauspielers (Michel Debrane) nach, der Sartre überhaupt nicht ähnlich sieht. Durch die Schauspielerei wird der Text nicht nur aus dem historischen Kontext gelöst, wir nehmen die Worte auch nicht mehr unbedingt als die von Jean-Paul Sartre wahr. Da spricht ein alter Mann sehr offen über seine Sexualität, über seine Beziehungen und die Widersprüche, in die er sich wohl auch in der Folge der sexuellen Revolutionen jener Jahre verwickelt sieht. So fremd uns der Text nach diesem Sprung durch die Zeit vorkommen mag: Beim Zuhören werden wir uns auch bewusst, dass viele der damals heiss diskutierten Fragen bis heute keine Antwort gefunden haben - sie werden nur nicht mehr gestellt.
Auch die Filme von Runa Islam wirken zunächst wie Dokumentationen - «First Day of Spring» zum Beispiel, der in Islams Heimat Dhaka in Bangladesh entstanden ist. Das «More than this» kommt hier dadurch zustande, dass die Künstlerin die Protagonisten ihres Films in eine ungewöhnliche Situation bringt - bezahlt sie doch sonst überaus hart arbeitenden Rikschafahrern einen ganzen Tageslohn dafür, dass sie während einiger Stunden gar nichts tun. Mit ruhiger Kamera zeichnet sie ein Porträt der Männer, das fast märchenhaft wirkt - und uns doch seltsam berührt. Als Fernsehzuschauer drücken wir unser Mitgefühl für die jenseits des Bildschirms leidenden Menschen allein dadurch aus, dass wir zuschauen und uns dabei machtlos fühlen - so beschreibt Susan Sontag die «Logik der Passivität» unserer Mediengesellschaft. In Islams Film nun werden auch die Rikschafahrer quasi zu «Zuschauern» ihrer eigenen, harten Arbeit - wodurch sie uns plötzlich viel ähnlicher sind, als wenn wir sie über Bierflaschen, Socken und Chips hinweg bei ihrer schweisstreibenden Arbeit beobachten würden.
Verkettungen
Eine ganz spezielle Methode verfolgt auch Marcel Odenbach. Er mischt in seinen Filmen gerne eigene Aufnahmen mit älterem Archivmaterial - so auch in der Doppelprojektion «The Male Story» von 2003, wo wir einen jungen Türken beobachten, der sich bei einem «Kuaför» rasieren lässt. Die Nahaufnahmen des Messers, das sorgfältig durch den Schaum geführt wird, sind da zum Beispiel mit Bildern türkischer Soldaten verknüpft, die sich durch eine Schneelandschaft kämpfen. Assoziativ wird so der ganz persönliche Moment der Rasur, in dem der Mann quasi gegen seine eigene Natur kämpft, mit den Anstrengungen und Problemen einer ganzen Gesellschaft verknüpft, sich als Nation zu definieren und abzugrenzen. - Ähnliche Verkettungen schafft Odenbach auch in der für die Biennale von Göteborg produzierten «Male Story 2», in der es um junge Schweden geht, die sich mit Hilfe von Oldtimern und steilen Gelfrisuren in ein Lebensgefühl «Jenseits von Eden» hineinzuföhnen versuchen. «Warum tun wir das eigentlich?» - «Irgendetwas muss man doch tun», lautet denn auch der geschichtsträchtige Schlüsseldialog des Films.
Etwas anderes tun die Protagonisten in den Filmen von Fikret Atay. In «Tinica» trommelt ein junger Mann über den Dächern der Stadt Batman auf einem Schlagzeug herum, das er aus Blechdosen, Kanistern und anderem Abfall zusammengestellt hat. Und in «Lalo's Story» erzählt ein junger Mann in einem Zelt eine Geschichte: Halb sprechend, halb singend, wie es die kurdische Tradition des «Dengbej» will - jedoch in englischer Sprache, was der ganzen Szene eine überaus bizarre Note verleiht. Auch das ist auf seine Weise «More than this».
Diese dritte Biennale von Göteborg wurde von Sara Arrhenius aus Stockholm kuratiert. In Abgrenzung zu den langen Künstlerlisten anderer Biennalen hat sie sich auf die Zusammenarbeit mit nur gerade zwölf Künstlerinnen und Künstlern beschränkt - «vielleicht, um eine Revolution mit einem Flüstern zu beginnen», wie Arrhenius in ihrem Konzeptpapier schreibt. Im Gegenzug sind diese zwölf aber dann jeweils mit mehreren Arbeiten vertreten, die zu einem grossen Teil auch eigens für diese Biennale geschaffen wurden.
Zusammenhalt
Im Vorfeld der Ausstellung hat Arrhenius eine Art Seminar organisiert, an dem fast alle Künstler und auch die Katalogautoren teilgenommen haben. Selbst wenn diese Vorbereitungen weder zu einem durchgängigen Ausstellungsthema noch zu einer konkreten Fragestellung geführt haben, so sind sie in der Schau doch spürbar. Vielleicht ist es ein unterschwelliger Zusammenhalt zwischen den Werken, der uns diese Schau als stimmig erfahren lässt. Vielleicht rührt das angenehme Gefühl aber auch nur daher, dass da eine Biennale für einmal nicht unter dem sonst üblichen Hochdruck zustande gebracht wurde, sondern mit Ruhe und Bedacht. Einige Besucher werden diese Biennale für zu klein oder auch zu mager halten. Andere aber dürften die leichte Verweigerung inspirierend finden, die hinter diesem Rückzug auf eine überschaubare Grösse steht. Und paradoxerweise erhöht diese Reduktion auch unsere Chancen, jene Arbeit zu finden, die uns ganz direkt betrifft. Womit wir wieder beim Peinlichen wären: Möge das Abenteuer beginnen.
More than this - Negotiating Realities. Göteborg International Biennial for Contemporary Art. Göteborgs Konsthall, Göteborg Museum of Art, Hasselblad Center. Bis 6. November. Katalog.
erschienen in NZZ, Mittwoch, 12.10.2005 / 41