Samuel Herzog

Coca-Cola aus der Han-Dynastie

«Mahjong» - eine grosse Ausstellung chinesischer Gegenwartskunst in Bern

Dass Uli Sigg über eine einzigartige Sammlung chinesischer Gegenwartskunst verfügt, ist spätestens seit der Biennale von Venedig im Jahr 1999 bekannt. Jetzt gibt es eine repräsentative Auswahl seiner Schätze im Kunstmuseum Bern zu sehen.
Wenn es etwas gibt, was man allgemein als typisch für die chinesische Kunst unserer Zeit ansehen kann, dann wohl am ehesten die manchmal fast schon an Borniertheit grenzende Konsequenz, mit der Ideen umgesetzt, Konzepte verfolgt werden. Das illustriert derzeit auch eine Ausstellung im Kunstmuseum Bern, die unter dem Titel «Mahjong» chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg präsentiert.
Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit eines Künstlers wie Xu Bing, der 1955 in der Provinz Sichuan geboren wurde. Mitte der achtziger Jahre begann Xu Bing, Schriftzeichen zu erfinden und als kleine Druckstöckchen in Klötzchen aus Birnbaum zu schnitzen. Bis etwa 1990 verfügte der Künstler so über ein Repertoire von ungefähr 4000 solcher Zeichen ohne Bedeutung - oder jedenfalls ohne einen für Dritte erkennbaren Sinn. Mit Hilfe dieser Zeichen stellte er «The Book from the Sky» her: ein umfangreiches, ganz traditionell aufgemachtes Buch, dessen Inhalt jedoch selbst für einen Schriftgelehrten nicht zu entziffern ist - kalligraphische Beredsamkeit ohne jeden Gegenstand.

Ausserordentlich gute Miene

Auf eine andere Weise geradlinig ist Yue Min Jun, der 1962 in der Provinz Heilongjiang zur Welt kam und heute zu den Stars der Pekinger Szene zählt. Er hat die aus der Kulturrevolution stammenden Prinzipien des Kollektivs und der Gleichheit künstlerisch beim Wort genommen und sich in Bildern und Skulpturen hundertfach selbst geklont. Mal sehen wir ihn in einem Fries unendlicher Selbstumarmungen, mal als militärische Truppe oder dann als Persiflage auf die Freiheit von Eugène Delacroix, die das französische Volk in die Revolution führt. Und immer macht er mit seinen ausserordentlich weissen Zähnen und seinem übertrieben breiten Lachen gefährlich gute Miene zum bösen Spiel.
Noch berühmter und genauso zielstrebig ist auch Ai Weiwei, der 1957 in Peking geboren wurde. Er hat die Ausstellung im Kunstmuseum mit kuratiert - gemeinsam mit Bernhard Fibicher, dem früheren Leiter der Berner Kunsthalle. In der Schau ist er zum Beispiel mit einer Urne aus der Han-Dynastie vertreten, auf die er mit roter Farbe ein Coca-Cola-Logo gesetzt hat. In eine ähnliche provokante Richtung zielt auch die Installation «Whitewash»: 132 mit geometrischen Mustern verzierte Vasen aus dem Neolithikum, von denen allerdings einige mit weisser Industriefarbe übertüncht wurden. Ob sich der Wert dieser archäologischen Objekte verändert, wenn sie unter der Farbe verschwinden? Oder sollen sie vielleicht gar von ihrer Geschichte weissgewaschen werden?
Konsequent an den Grenzen des künstlerisch Möglichen bewegen sich auch Sun Yuan und Peng Yu. Der 1972 in Peking geborene Sun Yuan hat die Kunstwelt Ende der neunziger Jahre mit Fotografien schockiert, in denen er menschliche Leichen zu bizarren Stillleben arrangierte: Für die Fotografie «Honey» etwa legte er ein tot geborenes Kind auf das Gesicht eines Greises, dessen Körper in einem riesigen Bett aus Eis eingefroren war. In Zusammenarbeit mit der 1974 in Heilongjiang geborenen Peng Yu schuf er von 2001 bis 2005 eine mehr als drei Meter hohe Säule, deren metallener Kern allseitig mit einer zehn Zentimeter dicken Schicht aus menschlichem Fett bestrichen ist. Das Rohmaterial sammelten die Künstler aus Schönheitskliniken rund um Peking - ihre Arbeit nennen sie folgerichtig «Civilization Pillar».
So konsequent wie die chinesischen Künstler selbst ist auch ihr Sammler: Uli Sigg, einst Botschafter der Schweiz in China und heute Vizepräsident des Ringier-Verwaltungsrates. Seit den neunziger Jahren sammelt er systematisch chinesische Gegenwartskunst. Heute umfasst seine Kollektion rund zwölfhundert Arbeiten von gegen zweihundert Künstlerinnen und Künstlern.
Ein Teil dieser Schätze wurde erstmals 1999 an der ersten, von Harald Szeemann kuratierten Biennale von Venedig gezeigt, die als «La Biennale dei Cinesi» in die Geschichte der Lagunenstadt eingegangen ist. Nach diesem fulminanten Start war das Interesse des Westens an der Kunst aus China geweckt: Da und dort gab es in den folgenden Jahren Gruppenausstellungen und seltener auch Einzelpräsentationen chinesischer Künstler zu sehen. Immer wieder wurden auch Teile der Sammlung von Uli Sigg in diesem oder jenem Kontext präsentiert. Ein ungefähres Bild vom qualitativen und quantitativen Ausmass seiner Schätze konnten sich indes nur jene machen, die den Sammler auf seinem Schloss Mauensee bei Sursee besuchen durften.
Die Berner Schau nun ist das erste Projekt seit der Biennale von 1999, das einen repräsentativen Einblick in die Sammlung von Uli Sigg gewährt - und man hat sich wahrlich nicht lumpen lassen: So konsequent wie die Kunst und ihr Sammler hat sich auch das Museum benommen und fast alle seine Räume für den Grossauftritt der Chinesen geleert. Auch für das Haus selbst ist eine Schau von dieser Dimension eine Novität, die als «Die grösste Ausstellung in der Geschichte des Kunstmuseums» angepriesen wird. Eng, fast etwas zu eng reihen sich da Fotos und Videos, Malereien, Skulpturen und Installationen aneinander - sogar die Treppenhäuser und die Fassade wurden bespielt.

Nur in der Phantasie

Weit mehr als dreihundert Werke werden in Bern gezeigt. Diese Masse verlangte nach einer Gliederung - und also haben die Kuratoren das Material einzelnen Kapiteln zugeordnet, die «Mao und die Kulturrevolution», «Mythen und Legenden», «Konsumismus» oder das «Das Medium Körper» heissen. Wer nach dem Besuch in Bern noch mehr chinesische Kunst sehen will, muss konsequenterweise nach Holderbank fahren - dort, in den Hallen der Holcim, wird ein weiterer, besonders grossformatiger Teil von Siggs Kollektion gezeigt.
Hier wie dort scheint eine ganz spezifische Problematik immer wieder durch: die Auseinandersetzung der chinesischen Künstler mit der Kultur und dem Markt des Westens. Diese Thematik wird auch im Katalog zu der Ausstellung aufgenommen, der sich als ein Standardwerk zur chinesischen Gegenwartskunst etablieren dürfte. So hat etwa Uli Sigg sämtliche Künstler der Ausstellung nach dem typisch Chinesischen an der chinesischen Kunst befragt - und fast alle haben sie ihm geantwortet, dass es so etwas wohl nur in der Phantasie des westlichen Publikums gäbe. Auch das ist sehr konsequent.

Mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung Sigg. Kunstmuseum Bern und Holcim, Holderbank. Bis 28. August in Holderbank. Bis 16. Oktober in Bern. Katalog (Hatje-Cantz-Verlag) Fr. 83.-.



erschienen in NZZ, Donnerstag, 16.06.2005 / 43