Samuel Herzog

Zwischen Koffer und Kinderwunsch

Das «Projekt Migration» im Kölnischen Kunstverein

Eine Ausstellung im Kölnischen Kunstverein versucht mit Mitteln der Kunst die gesellschaftlichen Veränderungen darzustellen, die durch Migrationsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst wurden. Und sie zeigt das utopische Potenzial in einer sozialen Entwicklung auf, die oft ausschliesslich als negativ empfunden wird.
Es gibt Themen, von denen man annehmen muss, dass sie längst schon Gegenstand zahlloser Studien und Recherchegebiet vieler Institute und Seminare sind. Migration ist ein solches Thema, das in den letzten Jahren (vor allem natürlich seit 1989) auch in der Politik verstärkt verhandelt wurde und in den Medien immer wieder für Kontroversen sorgte. Wer also eine Ausstellung zum Thema Migration vorbereitet, müsste eigentlich aus dem Vollen schöpfen können. Doch das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Vor drei Jahren wurde eine Gruppe von Kuratoren und Theoretikern von der deutschen Kulturstiftung des Bundes beauftragt, ein Projekt zum Thema Migration zu realisieren. Als sie anfingen, Materialien zusammenzutragen, mussten sie zunächst einmal «mit Erstaunen feststellen, wie wenig es zum Thema tatsächlich gab», erinnert sich Kathrin Rhomberg.

Gastarbeiterträume

Gemeinsam mit wissenschaftlichen Teams mussten in den folgenden Jahren erst einmal die Grundlagen für eine strukturierte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Migration erarbeitet werden. Ein grosser Part des dabei gesammelten und neu produzierten Materials liegt nun als Publikation vor: an die neunhundert Seiten mit Interviews, Dokumenten, sozialhistorischem Bildmaterial, Essays und künstlerischen Beiträgen.
Als ein zentraler Teil des «Projekts Migration» ist eine Ausstellung entstanden, die derzeit im Kölnischen Kunstverein zu sehen ist. Basis dieser Schau sind einerseits künstlerische Arbeiten zum Thema, andererseits die sozial- und kulturgeschichtlichen Dokumente und Objekte, die DOMiT (das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland) seit 1990 mit dem Ziel gesammelt hat, sie dereinst in einem Museum für Migration zu präsentieren.
Der Rhythmus der Schau wird wesentlich von dem Versuch bestimmt, die Gastarbeitermigration der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit jüngeren Bewegungen in den siebziger oder achtziger Jahren und den Charakteristika heutiger Migration in Verbindung zu bringen - Unterschiede und Verwandtschaften zwischen damals und heute deutlich zu machen. Also gelangen wir von Dokumenten über die Behausungen und Arbeitsbedingungen der ersten Gastarbeiter zum Beispiel zu den Fotos der «Türken in Deutschland», die Candida Höfer in den siebziger Jahren schoss - frühe Dokumente einer Veränderung im Bild unserer Städte, die uns heute fast schon selbstverständlich scheint.
Hinter einer Holztüre haben Anny und Sibel Öztürk das Zimmer ihrer Grosstante in Istanbul originalgetreu und überaus stimmungsvoll rekonstruiert. Also stehen wir minutenlang im Dunst der billigen Möbel, bald huschen Autoscheinwerfer über die Vorhänge, bald hören wir von fern den Ruf des Muezzins. Der Grieche Vlassis Caniaris zeigt seine Mitte der siebziger Jahre entstandene Installation «Interior» - eine Art Querschnitt durch eine Gastarbeiterbehausung jener Tage, in der verschiedene Grundmotive des Migrantendaseins durch Objekte symbolisiert sind: Koffer erzählen von der Reise, ein Spielzeuglaster mit Kartonflügeln vielleicht vom Wunsch nach Freiheit, eine Kinderkrippe von der Hoffnung auf eine Familie, die Zeichnung eines Segelbootes von romantischen Träumen.
Ganz und gar nicht romantisch geht es im «Big Sexyland» von Tobias Zielony zu: Der Fotograf hat eine Gruppe von jungen Migranten porträtiert, die in einem Berliner Vorort ihre Körper feilbieten. Morgan O'Hara zeichnet in ihren kartographischen Porträts die Strecken nach, die Menschen während ihres Lebens zurücklegen. Und Adrijana Stojkovic hat mit dem Film «Home» ein eindrückliches Bild des gleichermassen gewöhnlichen wie äusserst eigentümlichen Lebens in einem Flüchtlingsheim geschaffen. Sie porträtiert ein älteres Ehepaar bei alltäglichen Verrichtungen wie dem Kochen und Essen, Kartenspielen, Lesen oder Schlafen. Gegen Ende des Films aber zoomt sich die Kamera allmählich aus der Intimität des Paares heraus - und langsam erkennen wir, dass sich die ganzen vermeintlich privaten Szenen inmitten eines riesigen und überaus betriebsamen Flüchtlingslagers abgespielt haben.

«Tatort Migration»

Die Ausstellung zum «Projekt Migration» findet an diversen Orten im Stadtraum eine Fortsetzung. Besonders interessant ist da der «Tatort Migration», den Gustav Deutsch zusammengestellt hat. Aus den zahllosen Folgen der Krimireihe «Tatort», die seit den siebziger Jahren fest zur Fernsehkultur im deutschsprachigen Raum gehört, hat er all jene Szenen herausgesucht, in denen es auf die eine oder andere Weise um Migration und Migranten geht. Diese Sequenzen hat Deutsch nach Themen wie «Menschenfracht», «Rituale» oder «Die Macht der Sprache» geordnet und führt sie in Boxen vor, die ein wenig an kleine Wohnzimmer erinnern.
In ein Wohnzimmer ist auch Wilhelm II. geraten - mit seiner uniformierten Schulter und dem behelmten Kopf zumindest. Denn Tazro Niscino hat das Reiterstandbild des letzten deutschen Kaisers an der Hohenzollernbrücke eingerüstet und um den Kopf des Regenten eine Box gebaut, in der ein Wohnzimmer mit Bücherwand, Fernseher und Sofa eingerichtet ist. Auch die Zeit von Wilhelm II. war eine Zeit der Migration - infolge der Industrialisierung, der deutschen Versuche in Sachen Kolonialismus und schliesslich des Kriegs. Das sieht man dem Kaiser, der da dekorativ vor einem aus dem Klubtisch ragt, zwar nicht wirklich an - aber eine Begegnung der sonderbaren Art verschafft uns der Künstler allemal.
So komplex das Thema Migration auch ist - die Kölner Ausstellung schafft es, mit Hilfe von Kunstwerken und kulturhistorischen Objekten eine ganze Reihe von Problemfeldern anschaulich zu machen. - Unternehmen wie dieses «Projekt Migration» leisten einen wichtigen Beitrag zur Diskussion aktueller gesellschaftlicher Fragen in Europa. Und mit den Mitteln der Kunst können Dinge aufgezeigt werden, die über das politisch unmittelbar Relevante oder das statistisch Erfassbare hinausreichen. Ja, die Kunst kann gelegentlich auch das utopische Potenzial von Entwicklungen aufflackern lassen, die von vielen nur als problematisch angesehen werden. Genau das versucht die Kölner Schau.

Projekt Migration. Kölnischer Kunstverein. Bis 15. Januar 2006. Publikation (Dumont-Verlag) _ 48.-.


erschienen in NZZ, Freitag, 11.11.2005 / 43