Samuel Herzog

Hoffen auf ein farbiges Wunder

Die erste Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst .

Nun hat auch Moskau seine Biennale für zeitgenössische Kunst. Die erste Ausgabe wurde von einem internationalen Kuratorenteam gestaltet und präsentiert Arbeiten von gut vierzig Künstlern aus mehr als zwanzig Ländern.
Moskau hat derzeit einen enormen Bedarf an Japanern - nein, nicht an Autos, Unterhaltungselektronik oder Unternehmenskonzepten. Gefragt sind in Russlands Hauptstadt derzeit vor allem jene besonders geschickten Hände Asiens, die aus leicht gesäuertem Reis kleine Bällchen formen und sie akkurat mit Fischstückchen aus dem Ozean belegen. Sushi haben Hochkonjunktur rund um den Kreml, dessen dunkelrote Backsteinmauer den Reisenden von Tag zu Tag mehr an die Farbe von rohem Thunfisch erinnert. Ja ein Tekka-Maki oder Negi-Toro-Sushi ist derzeit an den Ufern der tiefgefrorenen Moskwa leichter zu bekommen als Borschtsch, Pelmeni oder sauer eingelegtes Gemüse - und nebenbei bemerkt zumindest im Zentrum auch erheblich billiger, wo offenbar jedes Lokal mit einheimischer Küche von säbelrasselnden Tatarenkriegern bewacht werden muss. So etwas kostet halt.

In der Mausefalle

Auch im Rahmen der ersten Moskauer Biennale für zeitgenössische Kunst, die Ende Januar eröffnet wurde, bilden die russischen Spezialitäten eher die Ausnahme - in der Hauptausstellung auf jeden Fall, die in den charismatischen Räumen des ehemaligen Lenin-Museums, im Schusev-Architektur-Museum und in der Metrostation Vorobyovy Gory eingerichtet ist. Unter den gut vierzig Künstlern und Künstlergruppen aus mehr als zwanzig Ländern finden sich nur gerade sechs, die das lokale Schaffen repräsentieren. Die fallen allerdings auf - vor allem durch ihren eigentümlichen Witz. So hat etwa die Künstlergruppe Blue Noses eine Reihe von grossen Kartonkisten aufgestellt, in die hinein sie von oben her Videofilme projiziert. Die Aufnahmen zeigen die Mitglieder der Gruppe in allerlei seltsamen Situationen - bald husten sie sich mit Leninbärtchen durch den Schlaf, bald schlagen sie sich im Turnus zu Boden, oder aber sie stecken ganz offensichtlich in einer Mausefalle fest. Die kurzen Szenen sind von oben her aufgenommen, wodurch die Protagonisten wie Zwerge oder kleine Tierchen wirken, die in den Kisten gefangen sind und sich zum Zeitvertreib bizarren Ritualen hingeben.
Ein ähnlicher Humor charakterisiert auch die Arbeiten der Gruppe Bluesoup aus Moskau. Ihr Video mit dem Titel «Gas» zeigt den Blick auf eine ziemlich unspektakuläre Zimmerecke: eine Türe, eine Lüftungsöffnung, eine Wandlampe, ein Sessel mit weissem Schutzüberzug - nichts geschieht. Plötzlich aber passiert dann eben doch etwas - je nach Sequenz geht auf einmal das Licht an, macht sich jemand an der Tür zu schaffen, oder es steigt Rauch von dem Sessel auf. Eine Ausgangssituation - tausend mögliche Entwicklungen. Wesentlich reduzierter ist das Potenzial der Arbeiten von David Ter-Oganyan - denn entweder es knallt oder dann eben nicht. Der junge Russe hat nämlich da und dort kleine Skulpturen placiert, die an terroristische Bomben erinnern: Drähte in verschiedenen Farben, viel graues Isolierband und kleine Wecker, deren Ziffern auf einen möglichen Explosionszeitpunkt zurasen. Ist der erste Schrecken überwunden, wird allerdings bald einmal klar, dass wohl keine Gefahr besteht - denn an der Stelle von Dynamit hat der Künstler Tomatenkonserven, Kürbisse, Suppendosen oder Limonadeflaschen verklebt und verdrahtet.
Den russischen Beiträgen sind Arbeiten von Künstlern aus den verschiedensten Gegenden dieser Welt zur Seite gestellt. Viele der Namen sind nicht ganz neu im Ausstellungsbetrieb, die meisten gehören jedoch einer jüngeren Generation an. Eine Ausnahme bildet da Spezialgast Christian Boltanski - der Altmeister düsterer Erinnerungskunst. Er hat in einem heruntergekommenen Schuppen hinter dem Schusev- Architektur-Museum seine «Geister aus Odessa» in Szene gesetzt: Im gelblichen Licht altertümlicher Kohlefadenlampen hängen da Dutzende schwarzer Mäntel im Raum - sanft bewegt von dem kalten Wind, der durch die Ritzen der lottrigen Wände pfeift. Wer Boltanskis Werk ein wenig kennt, den überrascht eine solche Inszenierung nicht. Auch lässt sich die Pathetik dieses Eingriffs wohl kaum überbieten - und doch herrscht in dem Raum eine Stimmung, die einen berührt wie etwa der Besuch in einer alten, lottrigen Kirche.
Gemessen daran wirken viele der Arbeiten jüngerer Künstler geradezu fröhlich und leicht. Selbst dann, wenn sie durchaus ernste Themen behandeln wie etwa Jun Nguyen-Hatsushiba in seinem unter Wasser in Szene gesetzten «Memorial Project Vietnam II» oder die Nigerianerin Fatimah Tuggar mit ihren sozialkritischen Fotocollagen, in denen sich Frauen aus Dörfern ihrer Heimat plötzlich in der hochtechnisierten Umgebung der USA wiederfinden - da geraten die Zeichen und Bedeutungen schwer durcheinander. Ziemlich chaotisch geht es auch in dem Video «Viva España» von Pilar Albarracín zu: Sie lässt eine junge Frau im gelben Mäntelchen durch die Strassen von Madrid schreiten - hinter ihr her marschiert ein kleines Blasorchester, das hartnäckig «Viva España» intoniert. Erst wird die Señorita von den Musikern nur begleitet, dann eher verfolgt und schliesslich von den einzelnen Instrumenten regelrecht bedrängt. Quasi einen Schritt weiter gehen da die «Seven Intellectuals In Bamboo Forest», die der Chinese Yang Fudong in seinem fast allzu betont poetischen Schwarzweissfilm über Liebe, den richtigen Partner und den besten Ort für Sex räsonieren lässt.
Konkreteres bieten die Österreicher der Gruppe Gelatin. Im zweiten Stock des ehemaligen Lenin-Museums haben sie eine Art Aussentoilette eingebaut. Die Besucher sind aufgefordert, über einen schmalen Steg in ein kleines Räumchen mit improvisierter Kloschüssel zu treten, das aus einem der Fenster des Museums ragt. Hier sollen sie ihr kleines Geschäft verrichten und damit zur Weiterentwicklung des riesigen gelben Eiszapfens beitragen, der unter dem Häuschen in der frostigen Moskauer Luft hängt. «Zapf de Pipi» nennt das wilde Quartett seinen Beitrag zur Biennale - und bedankt sich auch artig beim Publikum für dessen «freundliche Mitarbeit».
Insgesamt wirkt diese Biennale nicht nur sehr international, sondern auch erstaunlich kohärent. Selbstverständlich ist das nicht, denn immerhin mussten sich sechs recht unterschiedliche Kuratoren auf ein Programm einigen: Joseph Backstein, Daniel Birnbaum, Iara Boubnova, Nicolas Bourriaud, Rosa Martinez und Hans Ulrich Obrist. Dasselbe Team soll in zwei Jahren nochmals antreten, um dann die zweite Moskau-Biennale zu realisieren. Das sind ehrgeizige Pläne in einem Land, wo sich die Dinge sehr schnell ändern können - vor diesem Hintergrund darf man das Thema der gegenwärtigen Ausgabe vielleicht auch als eine Art Programm verstehen: «Dialectics of Hope» haben die sechs Kuratoren ihr Unternehmen getauft.

Kulturelle Impulse

Doch warum leistet sich Moskau überhaupt eine solche Biennale? Alexander Sokolov, Russlands Kulturminister, erklärt in einem Statement die Unterstützung zeitgenössischer Kunst zur «wichtigsten Aufgabe der Kulturpolitik in unserem Land - einem sich dynamisch entwickelnden Russland». Über die tieferen Gründe für ein solches Engagement kann man nur spekulieren.
Dass sich die Länder des ehemaligen Ostens nach der politischen Öffnung mit Wucht auf die Warenwelt des Westens gestürzt haben (und umgekehrt), ist hinlänglich bekannt. Und es ist auch nicht neu, dass die Einführung des Kapitalismus namentlich im Osten auch von ein paar unschönen Erscheinungen begleitet wird. Vielleicht soll die Kunst in der zunehmenden Kommerzialisierung der Lebenswelt, wie sie hier kaum zu übersehen ist, andere Aspekte sichtbar machen, auch andere Facetten der Globalisierung aufscheinen lassen. Aber kann Kunst das leisten? Kann eine solche Biennale andere Impulse geben an einem Ort, der es dem unvorbereiteten Besucher zumindest schwer macht, das Spezifische hinter der allgemeinen Konsumverkrampfung nach westlichem Vorbild noch zu entdecken? Wer weiss, vielleicht bewirken ja die Blauen Nasen und die Blauen Suppen ein noch farbigeres Wunder. Und möglicherweise bekommt man in einem Jahr hier wenigstens ein Puschkin-Sushi, bei dem eine in Vodka marinierte Moskwa-Forelle auf dem Reisbällchen thront.
Samuel Herzog
Erste Moskau-Biennale für zeitgenössische Kunst. Diverse Orte. Bis 28. Februar. http://moscowbiennale.ru




Im Kommandoraum des «Zapf de Pipi» der österreichischen Künstlergruppe Gelatin. (Bild her.)


erschienen in NZZ, 5. Februar 2005 Nr. 30 43