Samuel Herzog

Welt ohne Gegenstand

Russische und ungarische Avantgardekunst in Genf

Das Genfer Musée d'art et d'histoire widmet der russischen und ungarischen Avantgardekunst der Jahre 1912-1927 eine grossangelegte Ausstellung, die mehr als 300 Arbeiten auf Papier umfasst. Ausgangspunkt der Schau ist die Sammlung, die das Cabinet des Estampes unter Rainer Michael Mason seit 1979 angelegt hat.
Quadrate und Kreuze, Balken und Stäbe, Spiralen und Kreissegmente. Auf einen ersten Blick könnten sie formalistischer kaum sein, die Arbeiten der russischen Neoprimitivisten, der Kubofuturisten und Suprematisten, der Konstruktivisten und Produktivisten, die derzeit im Genfer Musée d'art et d'histoire versammelt sind. «L'affirmation du Nouveau - les avant-gardes russes et hongroises» heisst diese Schau, die rund 300 Papierarbeiten aus den Jahren 1912-1927 versammelt. Wobei die Eckdaten keineswegs zufällig sind. 1912 unterzeichnen David Burljuk, Aleksei Krutschonych, Wladimir Majakowski und Welimir Chlebnikow ein Manifest zur Verteidigung der freien Kunst - eine erste Regung dieser russischen Avantgarde. Und 1927 gehen Kasimir Malewitsch und sein Suprematismus mit der Bauhaus-Publikation «Die gegenstandslose Welt» in den Kanon der Kunstgeschichte ein.

«ENTEN-NEST . . . HÄSSLICHE WORTE»

Zwischen diesen zwei Daten legt die Genfer Schau einen Parcours aus, der an den verschiedensten Bewegungen und Gegenbewegungen dieser russischen Avantgarde vorbeiführt. Wobei das Formalistische vieler Zeichnungen und Grafiken oft dadurch ins Erzählerisch-Poetische erweitert wird, dass die bildnerischen Schöpfungen im Zusammenhang mit Gedichten oder anderen Texten in Mappen, Zeitschriften oder kleinen Büchern publiziert worden sind - und sich in Genf nun auch entsprechend als erzählerische Reigen auf der Wand präsentieren. Selbst wenn die Gedichte oft nahezu ebenso gegenstandslos scheinen wie die Darstellungen, die ihnen zugesellt sind: Worte lassen oft eher noch gewisse Assoziationen zu.
Die Schau beginnt allerdings noch im gegenständlichen Bereich: Mit neoprimitivistischen Lithographien von Natalija Gontscharowa nämlich, in denen Elemente der Volkskunst oft mit modernen Motiven in Verbindung gebracht werden - etwa in der Lithographie «Engel und Flugzeuge» von 1914, wo sich Propellermaschinen und gefiederte Heilige um den Platz im Luftraum streiten. Von Olga Rosanowa gibt es unterschiedlich kolorierte Blätter zu Gedichten von Aleksei Krutschonych zu sehen: «Kleines Enten-Nest . . . hässliche Worte». Der Künstler und Poet Krutschonych selbst ist etwa mit seinen «Transrationellen Gedichten» und der Mappe zum «Universellen Krieg» vertreten: weitgehend abstrakte Collagen, die da und dort aber plötzlich an Figuren erinnern können.
Von Kasimir Malewitsch gibt es unter anderem eine Reihe von 34 Lithographien mit dem Titel «Suprematismus» zu sehen - ein Loblied auf die Kraft der Form. Erheblich farbiger ist da der Kommentar, den Sonia Delaunay 1913 zu «La prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France» von Blaise Cendrars publiziert hat - der Entwurf ist an prominenter Stelle in der Ausstellung in Szene gesetzt. Ljubow Popowa spricht mit ihren sogenannt «architektonischen Malereien» eine überaus sachliche Sprache - noch «objektiver» ist da nur gerade Alexander Rodtschenko, dessen produktivistische Suche nach Formen für den Alltag ihn schliesslich zur Grafik führt.

«AFFIRMATION DES NEUEN»

Mit der Reihe «Proun» von El Lissitzky erhält der Suprematismus ingenieurhafte Züge - bewegen sich El Lissitzkys luftige Konstruktionen doch zwischen Malerei und architektonischem Plan. «Proun» soll übrigens «Projekte für die Affirmation des Neuen» bedeuten und hat dem Genfer Projekt also den Titel gegeben. Auch der Ungar Sándor Bortnyik führt leuchtende «Bildarchitekturen» vor, und von László Moholy-Nagy gibt es einige der berühmten Photogramme zu sehen, die er zwischen 1922 und 1929 realisiert hat. Einen Höhepunkt der Ausstellung stellen allerdings auch die auf ein formales Minimum reduzierten «Raumkonstruktionen» von László Péri dar - diesen Formen gibt es wahrlich nichts mehr hinzuzufügen, auch sprachlich nicht.
«L'affirmation du Nouveau» ist die Abschiedsveranstaltung von Rainer Michael Mason, dem scheidenden Direktor des Genfer Cabinet des Estampes. Als er 1979 sein Amt antrat, entschied er sich bald, eine Sammlung von Arbeiten auf Papier der russischen und ungarischen Avantgarden anzulegen. «Die Schweiz - vor allem die deutsche Schweiz - galt lange als das Land der konstruktivistischen und konkreten Kunst», erinnert sich Mason: «Künstler wie Max Bill, Fritz Glarner, Camille Graeser, Richard Paul Lohse und Verena Loewensberg gaben den Ton an. Von den historischen Grundlagen aber, auf der diese helvetische Kreation gewachsen war, gab es in den Museen unseres Landes so gut wie nichts zu sehen. Wie aber kann man über die Entwicklungen der Moderne nachdenken, wenn man das lange Jahrzehnt nicht dokumentieren kann, das in Moskau, Petrograd, Witebsk, Tbilissi, Berlin und Wien sowohl in gestalterischer wie auch in geistiger Hinsicht vorbildlich war.»
Die «ex nihilo» begonnene Genfer Sammlung führte bereits 1988 zu einer ersten Ausstellung mit russischer Avantgardekunst im Cabinet des Estampes - diese war damals den Jahren 1916 bis 1925 gewidmet. Mit der derzeitigen Schau, in der die hauseigenen Bestände durch Leihgaben aus verschiedenen Schweizer Museen (vor allem dem Kunstmuseum Basel) ergänzt sind, schlägt Mason also den Bogen zurück zu seinen eigenen Anfängen: ein eindrücklicher Spaziergang durch eines der wichtigen Kapitel der Moderne - selbst wenn man sich zwischen all den Winkeln, Balken und Kringeln, die sich da kommentarlos auf den Wänden reihen, manchmal ein wenig verloren fühlt - oder besser vielleicht: ein wenig gegenstandslos.

L'affirmation du Nouveau - les avant-gardes russes et hongroises 1912-1927. Musée d'art et d'histoire, Genf. Bis 11. September. Ein Katalog erscheint Ende Juni, Fr. 150.- (in der Ausstellung Fr. 90.-).


erschienen in NZZ, Samstag, 04.06.2005 / 66