REGELN FÜR DIE VOLLENDUNG
Da sich ja nicht messen lässt, ob etwas nun vollendet ist oder nicht, hat man in der Kunst auch schon vor den Konkreten immer wieder versucht, Regeln für die Vollendung aufzustellen - man denke etwa an die Proportionen dorischer Tempel, die Harmonielehren der Renaissance oder andere, überzeitliche «Klassiker» wie den goldenen Schnitt.
Ob man sich die Vollendung nun durch seine Frau diktieren lässt wie Vincent Müller oder durch mathematische Regeln wie die Konkreten, macht eigentlich keinen grossen Unterschied. Hier wie da erscheint das Vollendete als etwas, das wir nicht selbst verantworten können oder wollen. Wie schwer wir uns überhaupt mit der Vollendung tun, verrät sich ja schon in unserem Gebrauch des Begriffs: Es kommt kaum je vor, dass wir etwas «vollendet» nennen - allenfalls gestehen wir einer Sache ein «hohes Mass an Vollendung» zu. Doch kann es das geben? Ist etwas nicht entweder vollendet oder eben nicht? Und gibt es auch ein «niedriges Mass an Vollendung?
Dass wir die Verantwortung für das Vollendete nicht übernehmen können, hat vielleicht damit zu tun, dass das Eigene nie das Vollendete sein kann, sondern immer nur das Unvollendete. Dazu passt der Gedanke, dass alles Lebendige immer unvollendet sein muss, dass Vollendung den Tod bedeutet. Zyniker mögen behaupten, das Leben sei ohnehin nichts als eine Abfüllerei: Wir beginnen leer und werden allmählich mit Erfahrung gefüllt - bis wir voll sind und enden.
Auch in der Kunst steht das Unvollendete dem Lebendigen näher - das Vollendete dem Tod. Nichts illustriert dies eindrücklicher als der Mythos von Pygmalion. Aus Elfenbein erschuf sich der einsame Bildhauer eine Frauenfigur, die er Galatea nannte. Diese Figur war so schön, dass sich der Künstler in sein eigenes Produkt verliebte. Er flehte Aphrodite um Hilfe an, die sich schliesslich erbarmte und der Figur Leben einhauchte - alsbald stieg diese vom Sockel in die Arme ihres Schöpfers herab. Galatea war damit lebendig - das Kunstwerk aber war tot.
Solch schwierigen Verhältnissen zum Trotz hat die Kunst jahrhundertelang um Vollendung gerungen. Das hat wohl damit zu tun, dass sie lange fast exklusiv im Dienst von Kirche und Religion stand. In fast allen Religionen folgt auf ein unvollendetes Leben die Vollendung im Tod - manchmal Himmel, manchmal Paradies oder Nirwana genannt. Und der Kunst fiel immer schon die Aufgabe zu, bereits im Diesseits durch ein «Höchstmass an Vollendung» eine Ahnung vom Jenseits zu geben.
Ist es ein Zufall, dass das Unvollendete in jenem Moment seinen ersten grossen Auftritt feiert, da die Kunst aus den Diensten der Kirche herauszutreten beginnt - in der Renaissance nämlich mit den berühmten Torsi von Michelangelo? Und kann es ein Zufall sein, dass das Non-Finito ausgerechnet mit der Moderne und ihren religiösen Umbrüchen zu einem der wichtigsten Gestaltungsprinzipien überhaupt avanciert? Wenn Gott tot ist, dann wird das Vollendete ein Grauen - zumindest kündet es dann nicht mehr vom Paradies, sondern nur noch vom Ende, vom Tod als Schlusspunkt und nicht mehr als Beginn eines besseren Nachlebens.
Kein Wunder, ist uns eine unvollendete Kunst weit sympathischer als eine, die nach Vollendung sucht und damit immer auch zum Memento mori wird. Kein Wunder, feiern wir einen Rodin, der als einer der Ersten das Non-Finito zum künstlerischen Prinzip erhob. Kein Wunder, spielen Begriffe wie «prozessorientiert» oder «fragmentiert» in unserem heutigen Kunstdiskurs eine so wichtige Rolle. «Nicht zu perfekt machen - sonst liebe Gott böse», lautet ein oft zitierter Ausspruch von Nam June Paik.
SEHNSUCHT NACH DEM PARADIES
Doch so wie Gott nie wirklich ganz gestorben ist, hat sich auch die Sehnsucht nach Vollendung nie gänzlich verflüchtigt. Und das passt wohl ganz gut zu einer Moderne, die jede Entmystifizierung mit einem neuen Mythos kompensiert und heimlich, aber standhaft eben doch immer an eine bessere Welt geglaubt hat. «Das Unvollendete ist in der Kunst die Regel - die Vollendung ihr Mythos», heisst es bei dem Kulturanthropologen Lucien Blagbelle - und augenzwinkernd fügt er an: «Beim Essen ist es gerade umgekehrt.»
Nichts illustriert diese subkutane Sehnsucht nach Vollendung besser als die Rezeption von Paul Cézanne, einem der ganz wichtigen Väter der Moderne. Nur wenige Maler haben so viele Gemälde hinterlassen, die unvollendet scheinen. Und doch kommen fast alle Interpreten seines Werks zum Schluss, dass diese Bilder eigentlich «im höchsten Grade» vollendet seien.
Das Vollendete im Unvollendeten zu finden - das ist wohl ein Purzelbaum, wie ihn nur die Moderne zu schlagen vermochte. Und nimmt man unsere obigen Überlegungen ernst, dann äussert sich darin die totale Inthronisierung des Subjekts - das nun an der Stelle Gottes das Vollendete zu verantworten hätte. Zum Glück nur hat Vincent G. Müller davon keine Ahnung, sonst wäre wohl auf einmal alles Müller - oder.
erschienen in NZZ, Samstag, 08.10.2005 / 67