Samuel Herzog

Ansichtskarte vom Untergang

«Venezia!» in der Hermitage Amsterdam

Eine Ausstellung in der Hermitage Amsterdam zeigt venezianische Kunst aus dem 18. Jahrhundert. Vom Niedergang der einstigen Handelsmacht ist in den prächtigen Veduten und träumerischen Capriccios nur selten etwas zu spüren.
In Venedig war im 18. Jahrhundert nicht mehr viel los - ökonomisch auf jeden Fall. Die Tage, als venezianische Seefahrer und Händler das halbe Mittelmeer beherrschten, waren vorüber - die meisten ihrer Handelsplätze längst in osmanischer Hand. Und die Stadt selbst wurde über weite Strecken von einem Regime angeführt, dessen stärkstes politisches Argument ein gut ausgebauter Geheimdienst war. In dieser Zeit jedoch, da Spitzel und Intriganten zuhauf durch den Lagunennebel huschten, brachte die Stadt auch einige ihrer interessantesten Künstler hervor.
Das illustriert derzeit eine fein gemachte Ausstellung in der Hermitage Amsterdam, die selbst fast wie ein venezianischer Palazzo über der Nieuwe Herengracht liegt. «Venezia!» ist die dritte Schau in dieser noch recht jungen Institution, die in Sachen Besuchern derzeit auch davon profitieren dürfte, dass sowohl das Rijksmuseum wie auch das Stedelijk bis voraussichtlich 2008 nur in verhältnismässig kleinräumigen Provisorien operieren.

Ein Andenken an die Lagunenstadt

Aus den reichen Beständen des St. Petersburger Mutterhauses hat Kurator Henk van Os eine Schau zusammengestellt, die weniger durch die Masse der Exponate glänzt denn durch ihre sorgfältige Vermittlung. Und also lernen wir zum Beispiel, dass in jener Zeit in Venedig auch eine Erfindung gemacht wurde, die aus der heutigen Tourismusindustrie nicht mehr wegzudenken ist: die Ansichtskarte.
Für Söhne und Töchter aus besseren Häusern Englands war es im 18. Jahrhundert üblich, zum Zwecke der Bildung früher oder später eine grössere Reise anzutreten. Zu dieser «Grand Tour», die sich hauptsächlich im Mittelmeerraum abspielte, gehörte natürlich auch ein Besuch in Italien: Auf dem Programm standen Rom, Neapel und vor allem auch Venedig. Eine Stadt voller Paläste, gebaut im Wasser, ein Ort zerbröckelnder Macht und umso grossartiger zur Schau gestellter Pracht, das war etwas für die jungen Engländer, da hatten sie zu Hause etwas zu erzählen. Umso besser, wenn sie ihre Schilderung auch noch mit einem gemalten oder gezeichneten Bild des Ortes illustrieren konnten - visuelle Evidenz zum Beweis, dass sie tatsächlich da gewesen waren.
Schon Luca Carlevaris (1663-1730), der als der Erfinder des «vedutismo veneziano» gilt, schuf mit feinem Pinsel Ansichten von Venedig. Die Ausstellung führt als Beispiel ein um 1710 geschaffenes Bild der Landestege unterhalb des Dogenpalastes vor - eine recht kühne Komposition, ist die Szenerie doch durch eine mächtige Säule in zwei Hälften zerteilt. Carlevaris detailreiche Veduten mit ihren zahlreichen Mikroerzählungen konnten sich allerdings nur die betuchteren Reisenden leisten.
Der für den Tourismus entscheidende Schritt von der Einzelanfertigung zur Massenproduktion geschah erst einige Jahre später. Er verdankt sich dem Zusammentreffen zwischen einem Engländer und einem Italiener. 1725 machte der Kaufmann Joseph Smith die Bekanntschaft eines Schülers von Carlevaris namens Giovanni Antonio Canal (1697-1768) und beauftragte ihn, Veduten von Venedig zu malen. Canalettos Bilder erfreuten sich bald einer derartigen Beliebtheit bei den englischen Touristen, dass er in den dreissiger Jahren eine Werkstatt mit zahlreichen Mitarbeitern einrichten konnte, in der Veduten von Venedig in allen möglichen Formaten und wohl auch in auf den Geldbeutel des Kunden abgestimmter Qualität angefertigt wurden. Ja Smith gab sogar eine Sammlung mit Stichen nach Bildern von Canaletto heraus, die den Verkauf zusätzlich ankurbelten - denn wer sich keine Malerei leisten konnte, der trat wenigstens mit einem gestochenen Markusplatz im Lederköfferchen die Heimreise an. Mit einigem Recht kann man diese ökonomisch kongeniale Zusammenarbeit zwischen Canaletto und seinem englischen Kaufmann als die Geburtsstunde der Ansichtskarte betrachten.
In Amsterdam wird auch schnell einmal deutlich, warum sich ausgerechnet die Veduten von Canaletto bei den Touristen einer derartigen Beliebtheit erfreuten: Zeichnen sich seine Bilder doch durch die Genauigkeit und Realitätstreue aus, mit der die prominentesten Gassen und Winkel, Plätze, Kanäle und Paläste wiedergegeben sind. Stärker noch als in den Malereien kommt das in der Ausstellung etwa in drei von Antonio Visentini nach Bildern von Canaletto angefertigten Stichen zur Geltung. Diese zeigen Ansichten von Venedig, wie sie sich auch auf modernen Souvenirbildern immer noch finden: zum Beispiel den Markusplatz, von der Torre del Orologio aus gesehen.

Kunstvolle Zwitter

Die Amsterdamer Schau führt aber auch jenen Zeitgenossen Canalettos vor, der nicht für die Touristen, sondern für die Venezianer selbst gemalt hat: Francesco Guardi (1712-1793). Welch ganz anderes Bild der Lagunenstadt geben die Malereien dieses Lichtspielers wieder. Wo bei Canalettos Veduten alles mit akkurater Treue nachgezeichnet scheint, lässt Guardi in seinen Capriccios der Phantasie ganz offensichtlich freien Lauf: Da finden sich Innenhöfe mit riesigen Treppenanlagen, wie sie das kleinräumige Venedig nie gesehen hat. Dort steht plötzlich ein grosser Triumphbogen mitten auf einem venezianischen Quai. In diesen kunstvollen Zwittern aus Realität und Phantasie muss den Venezianern ihre eigene Stadt wie eine verzauberte Welt erschienen sein. Und vielleicht kamen Guardis Capriccios auch einem Wunsch nach einer herrschaftlichen, architektonischen Expansion entgegen, wie sie in der Realität der verarmenden Lagunenstadt zu jener Zeit längst nicht mehr denkbar war.
Eine Ausstellung über Venedig im 18. Jahrhundert wäre natürlich unvollständig ohne einige Bilder von Giambattista Tiepolo (1696-1770). Er ist mit einer frühen Verkündigung, einigen Zeichnungen und einer herrlichen Allegorie auf die freien Künste vertreten, die von Maecenas dem Kaiser Augustus vorgeführt werden. Ein Bild, mit dessen Hilfe Francesco Algarotti, Tiepolos geschickter Agent, bei deutschen Herrschern um Aufträge warb. Unter den Venezianern einer jüngeren Generation könnte man etwa Giuseppe Bernardino Bison (1762-1844) erwähnen, dessen düstere Ruinenphantasien an den etwas älteren, in Rom tätigen Piranesi erinnern. In seinen flockigen Aquarellen verbinden sich Figurengruppen, Sarkophage und venezianische Architekturelemente zu theatralischen Szenerien, deren Bizarrheit und perverse Eleganz an manche Filme von Federico Fellini denken lässt. So traumhaft schön kann Untergang sein.

Venezia! Venezianische Kunst aus dem 18. Jahrhundert. Hermitage Amsterdam. Bis 4. September. Katalog (Waanders Uitgevers, Zwolle) _ 22.50.


erschienen in NZZ, Donnerstag, 12.05.2005 / 43