Seelensüppchen
Jetzt brausen wir in die Shakespeare-Kurve hinein, wo Macbeth tapfer die Erscheinung des bewaffneten Kopfes befragt (1793/94). Aus fürchterlich leuchtenden Augenlöchern starrt ihn der bleiche Schädel an - und sieht ihm auch noch erstaunlich ähnlich. Das wirkt, als wüsste Macbeth hier selbst schon, dass er später im Stück zum fürchterlichen Tyrannen wird. Kompositorisch hat Füssli die zwei Macbeth-Köpfe durch das blosse Bein des Heerführers verbunden, das sich als leuchtende Diagonale in den Vordergrund stemmt. Im Hintergrund brauen die drei Hexen in einem Kessel ein schauriges Seelensüppchen zusammen, derweilen sie Macbeth kummervoll betrachten. «The Gallery» nennt Kuratorin Franziska Lentzsch diesen oktogonalen Raum, in dem uns Füsslis legendäre Shakespeare-Galerie vorgestellt wird. Vorbei an «Falstaff im Wäschekorb» (1792) und Titania, die Zettel mit dem Eselskopf liebkost (1793/94), treten wir nun ins «Conservatory» ein.
Wie Ameisen beim Picknick krabbeln hier Trolle und Kobolde, Feen, Hexen, Goblins und andere Geister über die Bilder. Einmal machen sie «Titanias Erwachen» (1785-90) zum fiebrigen Spektakel, dann treten sie uns als die Gefährten von «Fairy Mab» (1815-20) entgegen - jener Figur aus «Romeo und Julia», die bei uns Menschen die Träume ins Rollen bringt. Natürlich fehlt hier auch «Robin Goodfellow-Puck» (1787 bis 1790) nicht: Mit hämischem Grinsen und Fledermausflügelchen hüpft der kleine Teufel durchs Bild. Er schwingt eine Peitsche, an der Mond und Sterne befestigt sind, über deren Erscheinen er gebietet. Derweilen säuft zu seinen Füssen ein Reiter mit Pferd ab - von Puck in den Sumpf geführt, klammert er sich in letzter Verzweiflung am Hals seines Tieres fest.
Schaurig erregt geht es nun mit einem «Blue Room» weiter, in dem einige der wenigen erotischen Skizzen gezeigt werden, die sich von dem britisch gestimmten Stürmer und Dränger erhalten haben (die Witwe soll die meisten dieser Blätter nach Füsslis Tod verbrannt haben). Mit zartem Strich werden da männliche Geschlechtsteile in allerlei weibliche Öffnungen gekritzelt. Ein Mann küsst mit wilder Geste eine junge Frau vom Spinett (1819), und Brunhild ist sichtlich zufrieden, dass sie den kräftigen Körper von Gunther gefesselt von der Decke baumeln sieht (1807).
Füsslis wohl berühmtestes Bild, «Der Nachtmahr» (1781), hat dem nächsten Raum den Namen gegeben. Als sei sie von einer plötzlichen Ohnmacht heimgesucht, hat sich eine Dame mit weissem Gewand lasziv auf dem Diwan hingestreckt. Auf ihrer Brust kauert ein pelziger Dämon und scheint sich zu überlegen, mit welchem Albtraum er die Dame als Nächstes plagen will. Dabei schaut er uns an, als suchte er unseren Rat, Unterstützung durch unsere eigene, düstere Phantasie: «Na, was meinen Sie, wollen wir die Kleine mit ein paar grossen Schlangen plagen - oder lassen wir sie im Treibsand nach ihrem Chinchilla suchen?» Vielleicht deutet der Blick des Dämons auch an, dass er aus dem Bild heraus in unsere Träume springen möchte - was ihm mit Hilfe des teuflischen Gauls gelingen könnte, der da mit weissen Kulleraugen die Szene wiehernd beobachtet. Diese Inkunabel des «gothic horror» war ein Schock für die Londoner Society, obwohl sie an Ohnmachten aller Art gewöhnt war.
Kaum weniger grauslig ist die Begegnung von «Garrick und Mrs. Pritchard» (1812) im nächsten Raum - das Bild ginge auch glatt als Plakat für Filme wie «Living Dead» oder «Return to Bloodless Island» durch. Mit zwei blutigen Messern bewaffnet und allen Zeichen des Horrors im Gesicht tritt Garrick durch die Türe - wie gehäutet wirkt sein Körper. Um Ruhe besorgt, fliegt ihm Mrs. Pritchard entgegen - auch sie ganz wie ein Geist, den die Dunkelheit eben geboren hat.
Der letzte Raum der Schau heisst «The Library». Hier werden weitere literarische Vorlagen eingeführt, von denen Füssli sich inspirieren liess - antike Mythen, Ilias und Odyssee, das Nibelungenlied und natürlich die Werke von John Milton. Und ganz am Schluss dieser redseligen Schau, in der es nicht zuletzt auch einiges zu lesen gibt, steht «Das Schweigen» (1799-1801) - das ist die Bremsspur, die unsere rasende Geisterbahnfahrt zu einem besinnlichen Ende führt. «Füssli - The Wild Swiss» nennt das Zürcher Kunsthaus seine Hommage an den aus Zürich stammenden Künstler, der den grössten Teil seines Lebens in London verbracht hat und deshalb heute auch vielen als «British artist» gilt. Füssli wurde im Kunsthaus zuletzt 1969 mit einer umfangreichen Retrospektive geehrt. Und 1974/75 stellte ihn die Hamburger Kunsthalle vor. Seither ist er fast ein wenig ins Abseits geraten - sieht man von kleineren Ausstellungen ab, die einzelne Aspekte seines Werks beleuchteten (etwa die von Christoph Becker 1997 in Stuttgart vorgeschlagene Rekonstruktion der Milton-Galerie).
Eigensinn
So war es wohl höchste Zeit für diese Schau. Und sie ist auch gut gelungen: Recht frei thematisch geordnet, auf rote, grüne, olivfarbene oder blaue Wände gehängt, treten uns die Bilder und Zeichnungen, die Skizzen und Radierungen des Johann Heinrich Füssli als das entgegen, was sie sind: ein gigantisches und in jeder Beziehung überbordendes Theater zwischen Romantik und Klassizismus, deutschem Sturm und Drang und britischer Steifheit, malerisch manchmal bravourös, manchmal auch ein wenig unbeholfen in Szene gesetzt - immer aber mit Verve und Phantasie. Einer Phantasie, die auch gerne über die literarischen Vorlagen hinausging, denen sich Füssli sonst grundsätzlich verpflichtet fühlte. So bereicherte er fast alle Szenen durch eigene erzählerische Elemente und selbst erfundene Details - wie zum Beispiel die erwähnte Ähnlichkeit zwischen Macbeth und dem bewaffneten Kopf, der vor ihm erscheint. So berühmt einzelne der Vorlagen auch waren, Fuseli, wie ihn die Engländer nannten, verstand es stets, seine eigenen Geschichten mit einzuflechten. Und dieser Eigensinn war Teil seines Labels als «wild Swissman», mit dem sich Füssli äusserst erfolgreich auf dem britischen Kunstmarkt zu placieren wusste - als Direktor seiner eigenen Geisterbahn sozusagen, «Fuseli's Gothic Horror Picture Show».
Samuel Herzog
Kunsthaus Zürich. Bis 8. Januar 2006. Katalog Fr. 59.-.
erschienen in NZZ, Samstag, 15.10.2005 / 45