Hat man die Kleinigkeit einmal gesehen, dann weicht sie einem nicht mehr aus dem Blick. Da gibt es zwar Dutzende antiker Dichter und Philosophen, die Homer ihre Ehre erweisen: Herodot, Horaz, Vergil und Sappho treten von links an den Thron heran, Pindar, Platon, Sokrates und Aristoteles nähern sich von rechts. Da erweisen Künstler wie Phidias, Michelangelo, Poussin und natürlich Raphael dem blinden Poeten ihre Reverenz, steuern Mozart und Gluck einen gewaltigen Tusch zum Triumphe bei. Und auch jüngere Schreiber wie Dante, Shakespeare, Corneille, Molière oder Racine sind angetreten, der Vergöttlichung ihres grossen Vorgängers beizuwohnen. Da gibt es Personifikationen der Odyssee und der Ilias, einen gewaltigen Tempel und Stufen voller lateinischer und griechischer Inschriften. Im eigentlichen Zentrum aber der «Apotheose des Homer», die Ingres im Jahre 1827 malte, im Zentrum einer vier Meter hohen und mehr als fünf Meter breiten Leinwand steht die schmutzige Zehe des Dichters: Sie ist das erste, was man sieht, wenn man mit den Augen die Stufen erklimmt. Und wenn man sie einmal entdeckt hat, dann bleibt sie der geheime Mittelpunkt dieser strengen, Raphaels «Schule von Athen» nachempfundenen Komposition.
Zweifellos ist es nicht die Zehe von Homer, die Ingres hier abgebildet hat, sondern jene des Modells, das den Dichter im Atelier des Künstlers mimte. Der ganzen, in einer Welt jenseits menschlicher Begriffe sich abspielenden Szenerie hat Ingres mit dieser einen schmutzigen Zehe ein realistisches Detail untergeschoben - zweifellos ein bewusster kleiner Regiefehler, der die ganze Apotheose als eine theatralische Illusion entlarvt. Und plötzlich sehen wir auch nicht mehr den Olymp vor uns, sondern das etwas zu wenig geheizte Atelier des Künstlers, wo die Modelle zum Porträt versammelt sind. Gleich ist Pause. Homer wird von seinem Podest steigen und dabei seine Ilias vergnügt in den Hintern zwicken. Orpheus wird sich beschweren, dass ihm von dem Geruch des Lorbeerkranzes bereits übel ist - und Alexander der Grosse wird unter Hinweis auf das Kleingedruckte in seinem Vertrag eine bessere Beheizung des Raumes verlangen.
Diese Liebe zum bedeutungsvollen Detail prägt viele der Bilder, die Jean-Auguste-Dominique Ingres (1780-1867) gemalt hat. Und sie macht auch den Besuch einer Ausstellung im Pariser Louvre zum besonderen Erlebnis, die rund achtzig Malereien und mehr als hundert Zeichnungen des Meisters in einem labyrinthischen Parcours präsentiert.
Nehmen wir zum Beispiel das Porträt von Napoleon auf dem Kaiserthron aus dem Jahre 1806, bei dem sich der Maler an byzantinischen Madonnendarstellungen orientiert, um die fast schon himmlische Macht des kleinen Mannes zu illustrieren. Stundenlang können sich unsere Augen hier den goldenen Zotteln entlang hangeln, durch das Dickicht der purpurnen Falten kriechen oder auf dem Hermelin mit seinen feinsten Schattierungen Schlitten fahren. Diese Liebe zum Stofflichen prägt auch die späteren, weniger idealisierten Porträts - etwa das wunderbare Bildnis des russischen Finanzministers Guriew von 1821 oder das Porträt der Madame de Senonnes von 1815, in dem Ingres erstmals das Motiv des Spiegels einführt. Ein Trick, der ihm später eine unglaubliche Komplizierung seiner Bildnisse gestattet (etwa in «Madame Moitessier», das in der Ausstellung leider fehlt). Was für ein hervorragender Porträtist Ingres war, illustrieren in Paris auch sein fast schon holländisch anmutendes Bildnis der Königin Caroline Murat vor der Bucht von Neapel mit dampfendem Vesuv (1814) oder das Porträt von Louis-François Bertrin, dem Herausgeber des «Journal des débats» (1832) - wer in dieses Gesicht schaut, der weiss, wie Paris damals ausgesehen hat. Und wieder sind es die Einzelheiten, die dem Porträtierten lebendige Präsenz verleihen: der ungesunde Pickel am rechten Auge, die etwas hochgezogene Braue, die leichte Asymmetrie des Mundes, die Ahnung einer Narbe, der leichte Schweissglanz auf der Haut.
Auch in den Akten sind es vorrangig die Details, die erotische Spannung ins Bild bringen. Nehmen wir zum Beispiel die «Grosse Odaliske» von 1814, die oft als Inbegriff von Ingres unterkühlter Erotik gehandelt wird. Die verschiedenen Stoffe, auf denen die Dame ruht, sind so fein in Falten gelegt, dass wir die kaum merklichen Bewegungen ihres Körpers beinahe zu hören glauben. Wir riechen den Weihrauch, der in einer feinsten Wolke aus einem Gerät am rechten Bildrand aufsteigt - und spüren jetzt schon den Effekt des Opiums, das in einer fein geschnitzten Pfeife bereitsteht. Die meiste Erotik aber rührt von dem Fliegenwedel her, den die Schönheit nachlässig über ihren Schenkel baumeln lässt. Fast glauben wir, den Körper mittels dieser Pfauenfedern wirklich zu berühren. Wen erstaunt es da, dass Charles Baudelaire später schreiben konnte, das grösste Talent von Ingres sei seine «Liebe zur Frau».
Die Pariser Schau ist die erste Retrospektive seit annähernd vierzig Jahren - und sie führt den Maler in all seinen Facetten und Widersprüchen vor: den Klassizisten genauso wie den Romantiker, den Koloristen und Zeichner, den Liebhaber des rauen und des feinen Tones, den Realisten und den grossen Manieristen. Der Louvre verfügt selbst über einige der besten Bilder von Ingres - und hat natürlich keinerlei Schwierigkeiten, sich weitere aus anderen Museen zu leihen. Dieser Reichtum prägt auch die Schau - man wünschte sich jedoch da und dort eine etwas strengere Selektion: Neben Meisterwerken wie etwa auch dem späten «Bain turc» finden sich da manche Frühwerke oder manche Madonna, die man getrost hätte weglassen können.
Am Anfang und am Ende der Schau steht das monumentale Gemälde von Jupiter, dem Thetis in totaler Unterwerfung die Barthaare krault (1811). Trainiert durch so viel Ingres sehen wir sie dann plötzlich auch hier, die schmutzigen und ganz leicht deformierten Zehen. Und schauen wir dem Göttervater jetzt nochmals ins Gesicht und auf die Hände, dann könnten wir fast schwören, dass er wahrscheinlich tüchtig einen sitzen hat und ihm vom Mittagstisch noch der Saft der Lammkeule an den Fingern klebt.
erschienen in NZZ, Samstag, 11.03.2006 / 47