Man kann die Kunst der Moderne in zwei Grundströmungen fassen. Die eine setzt das Künstlerindividuum ins Zentrum und sucht, durch Gesten aus allen möglichen Grenzen auszubrechen, den Schaum über den Rand der Wahrnehmungswanne hinaus zu treiben. Die andere Strömung indes sucht die Reduktion und lässt den Künstler als Persönlichkeit meist eher in den Hintergrund treten. Sol LeWitt gehörte zweifellos zur zweiten Kategorie. Am Ostersonntag nun ist dieser Vater der Konzeptkunst und Hauptvertreter der Minimal Art im Alter von 78 Jahren in New York an einem Krebsleiden gestorben.
Dass Reduktion nicht notwendig Einfachheit bedeutet, illustriert schon ein Blick auf das Basiselement der Kunst von Sol LeWitt: den weissen, auf seine Kanten reduzierten Kubus. Von welcher Seite, aus welcher Perspektive auch immer wir diese Gitterstruktur ins Auge fassen, stets tun sich uns andere Überschneidungen und Winkel, andere Fluchtlinien und Korrespondenzen auf. Schon ein einziger Kubus bietet schier unendliche Möglichkeiten, unendliche Bilder - reiht man indes verschiedene dieser Einheiten aneinander, formt vielleicht gar einen grossen Kubus aus vielen kleinen Kuben, dann potenzieren sich die Schichten, kippt das auf den ersten Blick so Nüchterne ins geradezu Mystische, erhält das Geometrische eine ganz und gar irrationale Note.
Sol LeWitt war ein Meister darin, solch einfache Grundkonstellationen in zahllosen Variationen vorzuführen. Seine Fans erkannten in jeder dieser Variationen die Schönheit von Einfachheit, Rhythmus und immer wieder neuer Modulation. Für seine Kritiker tat sich mit jedem neuen Werk der Schrecken der endlosen Variation auf, die man mit gleichem Recht als sehr genau und als völlig beliebig ansehen kann. Manchen sind LeWitts Arbeiten sogar ein Beweis für die Existenz einer göttlichen Schöpfungskraft, die allein solche Vielfalt aus solcher Reduktion schaffen kann - und sie verehren den Künstler folglich als einen grossen Mystiker. Anderen wiederum ist gerade dieses Operieren in immer wieder neuen Varianten einer einfachen Struktur schlicht etwas zu esoterisch.
Als eine Fortführung der Kuben-Variationen entwickelte So LeWitt seine riesigen, oft farbigen Wall-Drawings. In ihnen versuchte er, das Prinzip der geometrischen Form, die durch den Blick des Betrachters in Bewegung gerät und eine erhebliche Komplizierung erfährt, vom Raum auf die Wand zu übertragen. Dabei wurden meist die Grundfarben Gelb, Rot, Blau und Grau in transparenten Schichten direkt auf die Wand gesetzt. LeWitt schuf jedoch auch mit seinen Wall-Drawings keine Bilder im eigentlichen Sinn - verstand er doch diese Zeichnungen stets als Teil der Architektur. Streng genommen muss man deshalb auch die Wall-Drawings als dreidimensionale Werke ansehen.
Bei den Wall-Drawings wie auch bei den Kuben stand für Sol LeWitt nie die Ausführung im Vordergrund, sondern die künstlerische Idee. Die Ausführung überliess er Assistenten. Für seine Wall-Drawings lieferte Sol LeWitt oft nur eine Skizze, eine Art struktureller Formel, die dann von den Assistenten nach eigenem Gutdünken und unter Berücksichtigung der jeweiligen Raumsituation ausgeführt wurde. Die Prädominanz der Idee vor der Ausführung ist das wichtigste Charakteristikum der Konzeptkunst, zu deren Erfindern Sol LeWitt gehört. Nur wenige Künstler allerdings haben dieses Prinzip mit einer solchen Konsequenz durchgehalten. Oft reiste Sol LeWitt erst im letzten Moment zu seinen Ausstellungen an, um seine Arbeit in fertigem Zustand zu besehen. Oder aber der Künstler, der abwechselnd im heimatlichen Connecticut und im italienischen Spoleto lebte, verzichtete ganz auf das Erscheinen bei der Vernissage - ein Verhalten, das gerade auch in seiner amerikanischen Heimat nicht immer ganz verstanden wurde.
Sol LeWitt kam 1928 als Sohn russischer Emigranten in Hartford (Connecticut) zur Welt. Seine Karriere begann in den 1960er Jahren. In der Diskussion mit Künstlern wie Dan Flavin, Donald Judd, Robert Ryman oder der Kunstkritikerin Lucy Lippard suchte er nach neuen künstlerischen Möglichkeiten - LeWitt: «The discussions at that time were involved with new ways of making art, trying to reinvent the process, to regain basics, to be as objective as possible.» Ideell ging aus diesen Überlegungen die Konzeptkunst hervor, materiell die ersten Kuben-Variationen, später die Wall-Drawings. Im Verlauf seiner Karriere hat LeWitt aber auch mit Lithographien und Radierungen experimentiert, mit Gouache, Handzeichnung und Fotografie.
Zudem ist er der Verfasser elementarer Schriften zur Concept-Art - ihm verdanken wir auch eine der besten Definitionen dieser für die Kunst der Gegenwart so überaus wichtigen Konzeption. Unter dem Titel «Paragraphs on Conceptual Art» schrieb er 1967 in «Artforum»: «In conceptual art the idea or concept is the most important aspect of the work. When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a perfunctory affair. The idea becomes a machine that makes the art.» Dass eine Idee, die als Maschine Kunst macht, unter günstigen Umständen sehr viel Kunst machen kann - auch das hat Sol LeWitt bewiesen: Es gibt weltweit kaum ein Museum, das keine Wand von ihm besitzt. Seine Wall-Drawings wurden öfters realisiert als jedes andere Kunstkonzept, mehr als 1200 Mal.
Simon Baur und Samuel Herzog
erschienen in NZZ, Dienstag, 10.04.2007 / 25