Im Mittelpunkt der Schau stehen vier riesige Landkarten der Schweiz, die Mir zusammen mit ihren sechs Assistenten eigens für diese Ausstellung gezeichnet hat. Das grösste Blatt, im Treppenhaus des Moser-Baus, zeigt auf rund fünf mal drei Metern Fläche eine recht gewöhnliche Karte der Schweiz, auf der brav alle grösseren Ortschaften und Verkehrsverbindungen verzeichnet sind. Die Landesgrenzen sind durch ein hübsches Band aus kleinen Blümchen markiert. Ausserhalb Helvetiens tut sich ein Ozean auf, in dem sich allerlei Monster tummeln: Seepferdchen mit langen Krallen und Seeschweine mit furchterregendem Gebiss, zähnefletschende Fische und Meereswürmer mit Federkleid. Nebst solchen Monster-Klassikern, die der «Cosmographia» von Sebastian Münster entsprungen sein könnten, finden sich auf der Karte auch modernere Gestalten - zum Beispiel zwei Comicfiguren, ein Kätzchen und ein Häschen, die uns von einer Venus-Muschel aus zuwinken. In prächtigen Kartuschen schwimmen in diesem Ozean ausserdem weitere Inseln herum, die «Europa», «America», «Asia» und «Africa» heissen. Das monströse Blatt erinnert an Karten, wie sie die frühen Eroberer der Weltmeere von neu entdeckten Gebieten zeichneten. Ausserhalb der «Insula Swissera» gibt es also noch einiges zu entdecken - vielleicht sehen die vier Frauen von Ferdinand Hodler da schon mehr, die im Treppenhaus über der Karte ihren «Blick in die Unendlichkeit» schweifen lassen.
Eine zweite Karte zeigt die Schweiz als einen pechschwarzen Asteroiden, der durch ein Weltall aus allerliebsten Monden und Planeten saust. Das dritte Riesenblatt fällt vor allem durch seine Bordüre auf, die an ein gehäkeltes Deckchen erinnert. Diese Arbeit interpretiert die Schweiz nicht als Insel, sondern umgekehrt als See, als «Lac Swissy» mit weissen Segelbooten. Mit der letzten Schweizer Karte dann kehren wir zur Inselmetapher zurück. Nun wird die «Insula Swizzera» von drei Segelbooten angesteuert - eines davon wird wohl die «Santa María» sein, auf der Christoph Kolumbus die Neue Welt entdeckt hat. Ja, edle Wilde und Kannibalen, das passt schon irgendwie zu unserem Alpenraum.
Die vier Blätter zur Schweiz werden von weiteren Inselkarten umrahmt, die illustrieren, wie umfassend das Inselprojekt der Künstlerin insgesamt ist. Da gibt es zum Beispiel «Airport Islands» und «Legal Islands», eine «Treasure Island», «Traffic Islands» und «Shopping Mall Islands» - daneben werden aber auch klassischere Inseln wie «Australia», «Hawaii» oder die «Ufenau» porträtiert. Einen Kommentar zur Schweiz wollen die Blätter wohl kaum darstellen - auch sind die Anspielungen sicher bewusst recht allgemein gehalten. Aber die Karten sind witzig - und so können wir doch froh sein, dass Mir die arme Metapher von der «Insel Schweiz» mit so viel Sorgfalt pflegt.
Das Bild von der «Insel Schweiz» ist eine Metapher, die in den letzten Jahrzehnten so oft durch die Medien- und Stammtischgespräche geschleift wurde, dass man sie eigentlich für mindestens zehn Jahre in einem unserer leerstehenden Alpenbunker einsperren müsste. Nun gibt es aber - ein uraltes Problem der Eidgenossenschaft - ausserhalb des Inlands doch einiges Ausland. In der Schweiz verfolgte Metaphern haben deshalb gute Chancen, dort Asyl zu bekommen. Im vorliegenden Fall war es Aleksandra Mir, eine in Polen geborene Schwedin mit Wohnsitz New York und Palermo, die der «Insel Schweiz» (sicherlich in Unkenntnis ihrer problematischen Vergangenheit) Asyl gewährt hat. Das Resultat ist eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich, die «Switzerland and Other Islands» heisst.
erschienen in NZZ, Samstag, 19.08.2006 / 45