Samuel Herzog

Hauptsache «gemalt»

Das Spätwerk von Pablo Picasso in der Wiener Albertina

   Der Gegensatz zwischen Zeichnung und Malerei ist Thema einer Ausstellung in der Wiener Albertina, die das Spätwerk von Pablo Picasso mit mehr als zweihundert Exponaten ausführlich präsentiert.

   Die grosse Picasso-Schau, die derzeit in der Wiener Albertina gezeigt wird, stimmt traurig. Dürfen wir uns denn nicht vom Alter erhoffen, dass es eine gewisse Gelassenheit gegenüber den Tatsachen des Lebens mit sich bringt, dass wir es verstehen werden, die grossen Kränkungen mit liebevollem Humor zu nehmen? Und gibt es nicht tatsächlich Greise, die uns in dieser Erwartung bestärken? Es gibt sie - aber Pablo Picasso gehört ganz bestimmt nicht dazu. Diesen Eindruck jedenfalls hinterlässt ein Gang durch die von Werner Spies in der Albertina eingerichtete Ausstellung, die dem späten Werk des Meisters gewidmet ist. Jedes Bild hier ist eine Auflehnung gegen die kürzer werdende Lebenszeit, jede Zeichnung eine Revolution gegen die schwindende Lust, jede Grafik ein Protest gegen das Abnehmen der Kraft. Das Alter, so scheint es, muss für diesen Meister der klassischen Moderne eine einzige Suite von Kränkungen gewesen sein - Hyperaktivität und Sarkasmus waren seine Methoden, dagegen anzugehen.

Im Rhythmus der Uhr

   Die Schau setzt ungefähr mit dem Jahr 1961 ein. Der achtzigjährige Picasso heiratet Jacqueline Roque und zieht in die Berge über Cannes, nach Mougins in das Haus Notre-Dame-de-Vie. Er hat noch zwölf Jahre zu leben. Getrieben von der Angst, keine Zeit mehr zu haben, beginnt er seine tägliche Arbeit immer strammer zu organisieren: Eine bestimmte Zeit ist für das Realisieren einer Malerei reserviert, ein identisches Mass für eine Zeichnung oder Grafik - was auch geschieht, es wird vom Ticken der Uhr bestimmt. Dass die Malerei per se mehr Zeit beansprucht als die Zeichnung, wird bei dieser Tagesplanung nicht respektiert: Picasso malt einfach schneller, hält sich kaum länger bei einzelnen Formulierungen oder Gestaltungen auf, operiert in Chiffren und Abkürzungen. «Gut gemalt» oder «schlecht gemalt» scheinen in dieser Zeit als Kriterien kaum eine Rolle zu spielen - Hauptsache, das Bild wird überhaupt «gemalt». Tag für Tag, Woche für Woche entstehen so Gemälde zuhauf. Oft sind es Einzelfiguren oder Paare, seltener grössere Szenen oder Landschaften - und immer wieder die gleichen Themen: gehaltvolle Akte, Selbstporträts, der Maler und sein Modell, Harlekin, Musketier und Torero . . .

   Am 25. Oktober 1964 etwa malt Picasso eine der zahlreichen Varianten von «Der Maler und sein Modell»: Über einer angedeuteten Bettstatt schreitet das Modell von rechts nach links ins Bild. Ihr Geschlecht ist nur noch ein kleines Kreuz, dafür streckt sie dem Maler mindestens drei Hände entgegen. Der drückt sich grau in die linke Bildhälfte. Ursprünglich sass er wohl rauchend da, jetzt hält er nur noch brav Palette und Pinsel hoch. Viele Bereiche des Bildes lassen sich auf keine Bedeutung festlegen, sind reine Farbe, Form oder Geste - als sei der Pinsel erschlafft, bevor er die Figur aus dem Grund hätte lösen können. Wäre das kein Bild von Picasso - was würde man wohl davon halten?

    Ganz anders kommen die Arbeiten auf Papier jener Jahre daher. Hier hatte der Künstler naturgemäss mehr Zeit pro Quadratzentimeter, hat er die Figuren folglich sorgfältiger durchgestaltet, Details ausgearbeitet. Nehmen wir zum Vergleich die farbige Zeichnung «Mann und Frau» vom 2. Oktober 1967. Links räkelt sich da eine nackte Schönheit auf einer Art Diwan, streckt uns ihre Schenkel und Brüste entgegen. Rot leuchten die Schamlippen durch das mächtige Gebüsch ihres Schosses - derweilen ihr Gesicht, ihre Gesichter im Schatten der erhobenen Arme liegen. Zu ihrer Linken sitzt ein Mann mit nacktem Hintern auf einem Nachttopf und raucht eine lange Pfeife. Die zwei Figuren sind stilistisch unterschiedlich gezeichnet - so als gehörten sie verschiedenen Realitäten an. Die Frau ist als sexuelles Wesen, als Objekt des Begehrens intakt in ihrer eigenen Welt - der Mann aber ist ein Strichmännchen, ein Harlekin, ein lächerlicher Kinds-Greis-König auf seinem Thron. Je nach Blick scheint es auch, als sässe der Mann vor einem Bild der Frau - Kontemplation mit Exkrementation und dazu ein wenig Rauch, der verpufft. Das ist grimassierend, das ist böse - das ist Humor mit höchstem Säuregehalt.

   Dieser Gegensatz zwischen dem «wilden» Maler Picasso und dem stärker reflektierenden, schärfer gestaltenden Zeichner ist ein Grundmotiv dieser Ausstellung. Nun könnte man sich verführt sehen, dem sorgfältigeren Zeichner und akribischen Grafiker den Vorzug zu geben - für Spies aber hat Picasso gerade auch in seinen späten Malereien eine neue Sprache entwickelt, die das malerische Gebaren der «Neuen Wilden» und ihrer Nachfolger antizipiert: Verzicht auf eine anspruchsvolle Thematik, Verzicht auf Komposition im engeren Sinne, Verzicht auf Hierarchisierung des Bildraumes - dafür Tempo, expressive Pinselführung, Egalität zwischen Gestaltung und Psychogravur, zwischen Plastizität und Fläche, Illusion und Material.

Sex als Chiffre

   Sicher hat Picasso da Bedeutsames zur weiteren Geschichte der Malerei beigetragen - trotzdem mag man es beim Gang durch die Ausstellung dann und wann bedauern, dass er die Unmöglichkeit, ein weiteres Meisterwerk zu schaffen, durch diese schiere Bildermasse ersetzt hat. Irgendwann nämlich beginnen sie einen kaltzulassen, all diese Figuren mit ihren stets markanten, jedoch nie individuellen Gesichtszügen, die uns da ihre Geschlechtsteile und Glieder entgegenstrecken.

   Dann aber betreten wir die zwei hintersten Räume der Schau, in denen die allerletzten Bilder des Malers versammelt sind. Als habe er sich für den Schluss noch etwas aufgespart, schlägt Picasso hier nochmals neue Töne an: Die Figuren, die sich zuvor stets deutlich in den Tiefen des Bildes bewegten, sind nun nahe an den Bildrand gerückt, ganz, als wollten sie aus dem Rahmen treten, in die Welt hinein. Das ist bedrängend, das ist grimmig - und gleichzeitig deutet sich hier auch der Wunsch des Malers an, nach seinem Tod durch seine Bilder und Figuren hindurch in die Welt zurückzukehren. Auf eine gewisse Weise ist ihm das ja wohl gelungen - die Traurigkeit aber bleibt, beim Betrachter auf jeden Fall.



erschienen in NZZ, Donnerstag, 12.10.2006 / 43

   Picasso - Malen gegen die Zeit. Albertina, Wien. Bis 7. Januar 2007. Anschliessend in der K20 - Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.