Samuel Herzog

Einrichtungen für die Ewigkeit

Eine Grossinstallation von Richard Serra in Bilbao

Das Guggenheim-Museum Bilbao präsentiert eine Gruppe von acht gigantischen Stahlskulpturen des Amerikaners Richard Serra. «A Matter of Time» heisst diese Installation aus begehbaren Spiralen, Ellipsen und Schlangenformen. Nach der Ausstellung von acht Ellipsen im Jahr 1999 soll die neue Installation nun ständig im Museum bleiben.
Die Biskaya gilt als «Land der Kontraste» - nicht bloss, weil der Atlantik hier ungebremst das Klima bestimmt und aus einem heissen Sommernachmittag im Windumdrehen einen kühlen Herbstabend macht. Kontrastreich ist auch die Landschaft: Schroff fallen die Berge zum Meer hin ab, an liebliche Naturparks grenzen schmauchende Industriezonen, und neben mondänen Städten breiten sich archaisch wirkende Landwirtschaftsgebiete aus. Ja selbst die zwei auffälligsten Nationalgerichte der Biskaya sind schwarz und weiss: Tiefschwarz sind die in ihrer eigenen Tinte geschmorten Txipirones, elfenbeinweiss die mit Paprika gebratenen Angulas, kostbare delikate Baby-Aale aus den Flüssen der Region.

Das Gleichgewicht halten

In einer solchen Zone sind es die Menschen gewohnt, zwischen dem Gegensätzlichen das Gleichgewicht zu finden, im Widersprüchlichen die Orientierung nicht zu verlieren. Die Biskaya scheint also auch der richtige Ort für die grossen Stahlplastiken des Amerikaners Richard Serra (geb. 1939), in denen wir uns anstrengen müssen, die Balance zu halten, den Norden nicht zu verlieren.
Schon zur Eröffnung des Guggenheim-Museums Bilbao präsentierte Serra in einer separaten, unendlich langen Galerie die Plastik «Snake»: Drei aufrecht stehende, vier Meter hohe und mehr als dreissig Meter lange Stahlbänder, die sich ungefähr parallel wie ein Schlangenkörper durch den Raum winden. Wobei die Betonung hier auf «ungefähr» liegen muss, sind die drei Bänder doch leicht unterschiedlich geformt, so dass sich die Abstände zwischen ihnen und ihre Neigung ständig verändern. Wer durch einen der zwei Gänge schreitet, die sich zwischen diesen Stahlplatten auftun, erlebt also einen Raum, der immer gleich und doch ständig anders ist.
Die Erfahrung erinnert ein wenig an den Gang durch ein mittelalterliches Städtchen irgendwo im mediterranen Raum: Meter für Meter öffnet sich die Gasse anders zum Himmel, Schritt für Schritt erleben wir ein neues Licht. Wobei in Serras Plastiken nichts diese Erfahrung der Verengungen, Ausweitungen, Neigungen, Hohlformen und Schwünge stört. Da gibt es weder Wäscheleinen noch tropfende Blumenkisten, die uns bei der Konzentration auf den Raum und sein Licht behindern. So gesehen könnte man Serras Plastik als die Abstraktion eines mediterranen Dorfes verstehen - als modellhafte Inszenierung eines Erfahrungsraumes.
Bei der Eröffnung des Museums schien es, als habe Architekt Frank Gehry diese Galerie 104, die wie ein Finger aus der dekonstruktiven Faust des Guggenheim Bilbao ragt, eigens für diese Plastik seines Freundes geschaffen. Ein Raum für eine einzelne Skulptur - oder umgekehrt. Nun aber hat der Künstler in derselben Galerie sieben weitere Stahlplastiken aufgestellt. «The Matter of Time» nennt er diese wahrhaft gigantische Installation, die ab heute für das Publikum zugänglich ist. Diese acht Skulpturen werden dauerhaft in diesem Raum des Museums zu sehen sein, das so eine Art Serra-Museum im Museum erhält - mit eigener Cafeteria notabene. Und die acht Skulpturen bewirken, was die Kunst in einem von Frank Gehry gebauten Haus gewöhnlich nicht vermag: Sie lassen diese Architektur, die sich sonst so gerne als Protagonistin in den Vordergrund schiebt, zur Nebensache werden.
Treten wir also ein in Richard Serras stählernes Dorf, das durchgehend aus etwas mehr als vier Meter hohen Wänden gebildet ist. Vielleicht besuchen wir zuerst die «Torqued Spiral (Closed Open Closed Open»: Zwei Mal müssen wir im Kreis um dieselbe Achse schreiten, bevor wir das Zentrum der Spirale erreichen. Gegen Ende des Weges neigen sich die Wände so stark, dass sie sich oben fast berühren - eine dunklere Zone, nach deren Überwindung die Lichtung in der Mitte umso heller erscheint.
Auf diese Spirale folgen in wenigen Metern Entfernung eine einfach und eine doppelt gedrehte Ellipse und dann die oben beschriebene Schlange. Bei der nächsten Spirale setzt ein Effekt der Wiederholung ein, der uns die Orientierung verlieren lässt: Wie oft sind wir nun schon im Kreis gegangen? Und auf welcher Seite sind wir reingekommen? Beim Verlassen der Plastik biegen wir prompt in die falsche Richtung ab. Halt, hier waren wir schon.
Es folgt nochmals eine Spirale und dann «Between the Torus and the Sphere» - eine Serie von acht unterschiedlich gebogenen, ungefähr parallel stehenden Wänden: Sieben ähnliche Korridore, die doch unterschiedlicher nicht wirken könnten. Ganz am Schluss der Halle schliesslich die letzte Herausforderung für unseren Orientierungssinn: «Blind Spot Reversed» - eine Art zerdrückter Spirale mit spitzen Winkeln. In kürzer werdenden Bögen schreiten wir hin und her bis zum engen Zentrum, das uns nun wirklich ein Gefühl des Gefangenseins vermittelt. Ein Gefühl, das durch die Akustik des Raumes noch verstärkt wird: Jedes Räuspern schwillt hier zu einem unheimlich metallischen Grollen an - ganz als sässen wir im Innern eines altmodischen Grammophons fest.
Die Unterschiede zwischen diesen acht Skulpturen, die sich ja grundsätzlich alle desselben Vokabulars bedienen, lassen sich weder passend beschreiben noch bildlich erfassen - sie lassen sich eigentlich nur körperlich erfahren. Dafür allerdings muss man sich erst einmal auf Serras Skulpturen einlassen - so wie man sich auf eine Bergwanderung einlässt oder einen Kamelritt durch die Wüste. Serras Werke verlangen da mehr von uns als andere Plastiken, denen wir unsere Aufmerksamkeit ja auch im Bruchteil einer Sekunde entziehen können. Bei Serra sind wir drin, bei ihm sitzen wir fest.

Ausser Lot und Achse

Der Einfluss von Serras Skulpturen auf ihre Betrachter, Begeher, Benutzer ist enorm. Am deutlichsten spüren wir das zunächst in unserem Körper, der direkt auf diese Räume reagiert. Ob wir die Plastik nun beschreiten oder darin stehen, stets neigt sich unser Leib nach links oder rechts, nach vorne oder hinten - andauernd bemüht, die Abweichung dieser Wände vom rechten Winkel körperlich auszugleichen. Da wir uns nicht daran hindern können, diesen Ausgleich vorzunehmen, ist unser Körper nach einiger Zeit ganz durcheinander, geraten unsere Glieder aus Lot und Achse.
So etwas hat natürlich auch einen Einfluss auf unser Gemüt. Wie wir auf Serras Räume - oder wohl besser: auf uns in Serras Räumen - reagieren, hängt wohl hauptsächlich von unserer psychischen Verfassung ab. Vielleicht ist uns nach fröhlichem Gesang zumute - oder wir verfallen einer Depression. Vielleicht fühlen wir uns beklommen, vielleicht von Selbstverlust bedroht - oder aber wir nutzen den Raum zur meditativen Konzentration.
Serra hat keine Kunstwerke geschaffen, die bestimmte Erfahrungen vermitteln. Er hat begehbare Skulpturen entworfen, in denen unsere psychischen und physischen Konditionen, wie auch immer sie im Einzelnen beschaffen sein mögen, destabilisiert, provoziert werden. Was genau ein jeder damit beginnt, ist Sache des Künstlers nicht - aber immerhin gab Serra anlässlich einer Presseführung bekannt: «I personally don't sing in these pieces.»
Und so stehen sie also da, die acht Plastiken von «The Matter of Time» - ernst und schwer, wie für die Ewigkeit eingerichtet. Ihre Haut wird in den nächsten sieben bis acht Jahren zu Orange oxidieren, dann zu dunklem Rot, um schliesslich eine einheitlich moosgelbe Tönung zu erreichen. Ein schönes Altern. Ob auch das Museum insgesamt auf ähnlich charismatische Weise altern wird? Acht Jahre nach der Eröffnung wirken die metallenen Schuppen der Aussenhaut nicht mehr gar so frisch. Ob die Kunst hier für einmal den Paragone mit der Architektur für sich entscheidet? Auf Prognosen sollte man sich in der Biskaya mit ihren Wetterlaunen wohl besser nicht einlassen: «Che Serra Serra».



erschienen in NZZ, Mittwoch, 08.06.2005 / 41