Samuel Herzog

Die grosse Einleuchtung

Jeff Wall zu Besuch im Schaulager Münchenstein

Er gehört zu den Pionieren der Grossfotografie und ist ein Meister der Inszenierung: der Kanadier Jeff Wall. Das Münchensteiner Schaulager präsentiert nun in einer retrospektiv angelegten Ausstellung rund siebzig Werke aus den Jahren 1978-2004.
Warum hat Jeff Wall bloss einen derartigen Erfolg? Seit Jahren kommt kaum eine Biennale, Documenta oder grössere Themenausstellung ohne einen Beitrag des kanadischen Fotografen aus - egal, worum es geht, Wall scheint immer zu passen. Und eine Sammlung mit zeitgenössischer Kunst, die nicht mindestens über einen seiner riesigen, leuchtenden Diakästen verfügt, muss diese Lücke beinahe begründen. Die Basler Emanuel-Hoffmann-Stiftung braucht diesbezüglich niemandem etwas zu erklären: Sie verfügt über eine ganze Reihe von Bildern des Kanadiers. Ergänzt durch zahlreiche Leihgaben sind diese nun in der Sommerausstellung des Schaulagers zu sehen - jener Institution in einem Vorort von Basel, die hälftig als Edellager für Kunst und als grosszügig dimensionierter Schauraum funktioniert.

Unter dem Küchentisch

«Das ist die EINE grosse Ausstellung im Leben eines Künstlers», gab Jeff Wall an der Eröffnungspressekonferenz in Münchenstein bekannt. Ähnliches liess er vor zwei Jahren schon in Wien verlauten, als dort im Museum Moderner Kunst eine grosse Retrospektive eröffnet wurde. Ein Höhepunkt jagt also den nächsten in dieser Künstlerkarriere. Zur Eröffnung in Münchenstein ist nun auch noch ein Catalogue Raisonné erschienen, der die 120 Werke der Jahre 1978-2004 auf 3030 Gramm Buch vorstellt. Auch das lässt sich sicher noch übertreffen. Doch warum nur behauptet sich dieser Künstler aus dem kühlen Vancouver seit so langer Zeit schon als heiss begehrter Liebling der Szene?
Vielleicht, weil er eine Art Wunderschwiegersohn dieser Kunstfamilie ist, der heikle Themen wie Erotik oder Politik tunlichst vermeidet und alle Clanmitglieder zu befriedigen versteht. Dem Publikum offeriert er wie Werbetafeln verführerisch leuchtende Bilder, die so grossformatig sind, dass wir quasi in sie eintreten können - und also zu einem Teil der Geschichten werden, die sie erzählen. Nehmen wir zum Beispiel «Insomnia» von 1994, ein Grossdia im Leuchtkasten von mehr als zwei Metern Breite: Wir blicken in eine Küche mit eher billigem Mobiliar, kaum eine Handbreit vor dem kleinen Fenster beginnt bereits die Mauer des nächsten Hauses. Unter dem Küchentisch, gleichsam vor uns am Boden, liegt in Lebensgrösse ein Mann. Er ist bekleidet und scheint stark zu schwitzen, seine Augen sind weit geöffnet und seine Hände wirken verkrampft. Die Szene ist durch und durch konstruiert und entstand im Atelier des Künstlers, wo die Küche in einer Box aufgebaut wurde. Nichts in diesem Küchenstillleben mit schlaflosem Mann ist dem Zufall überlassen - und alles verströmt eine ganz leichte Trostlosigkeit: das vergilbte Mobiliar ebenso wie das gleissende Neonlicht der Deckenlampe, die zerknüllte Supermarkttüte auf dem Eisschrank, das abgenutzte Tuch überm Stuhl oder die Butter, die neben dem Herd vor sich hin schmilzt. So bizarr die Szenerie ist: Hier wird nichts vor uns verborgen, wir sehen alles, was es zu sehen gibt. Und sind also auch völlig in der Lage, uns diese Geschichte selbst zu erzählen. Jede Geschichte allerdings.
Da haben es die Kunstwissenschafter einfacher, denn ihnen legt Jeff Wall mit seinen Inszenierungen eine Reihe von historischen Referenzen vor, die sich klug analysieren lassen - eine Gelegenheit zu beweisen, dass man aufgepasst hat und nicht etwa jahrelang in den hinteren Rängen des Hörsaals von fernen Reisen träumte. Vor allem im Frühwerk gibt es da prominente Beispiele wie etwa «The Destroyed Room» von 1978, das früheste Werk in der Ausstellung: Die Foto zeigt den Blick in einen Raum mit halb zerstörtem Mobiliar und völlig chaotisch herumliegenden Gegenständen - eine aufgeschlitzte Matratze, ein zerschlagener Tisch, am Boden ausgeleerte Schubladen usw. «The Destroyed Room» wurde durch «La mort de Sardanapale» inspiriert - ein riesiges Historiengemälde, das Eugène Delacroix 1828 malte. Es erzählt die Geschichte des assyrischen Königs Sardanapal, der all seine Besitztümer zerstören liess, damit sich der siegreiche Feind nicht an ihnen würde erfreuen können. Walls Bild nimmt kompositorisch Elemente dieser Salonmalerei auf.
Mit Vorbildern aus der Kunstgeschichte flirten auch Fotos wie «Picture for Women» von 1979 (Manets «Bar aux Folies-Bergère») oder «The Thinker» von 1986 (Rodins Denker und Dürers «Bauernsäule»). In späteren Bildern sind solch direkte Referenzen eher selten. Doch sind auch viele der jüngeren Fotografien so beschaffen, dass sie auf die eine oder andere Weise wirken, als könnten sie auf ein klassisches Vorbild verweisen. Das mag daher rühren, dass die meisten Fotos eindeutig inszeniert sind und so eine Absichtlichkeit ausstrahlen, die man als Versuch einer fotografischen Nachstellung oder besser Interpretation einer ursprünglich vielleicht gemalten Szene lesen könnte. Das dürfte auch erklären, warum viele Interpreten auch in solchen Bildern Walls nach dem kunsthistorischen Vorbild suchen, die nach Aussage des Künstlers «keine Beziehung zu irgendwelchen anderen Bildern haben». Ausserdem sind viele Fotografien Walls so aufgebaut, dass wir durchaus klassische Konstruktionsprinzipien (Diagonalen, Parallelen, räumliche Geometrien usw.) in ihnen ausmachen können - auch das mag ein Grund für die Suche der Interpreten nach kunsthistorischen Bezügen sein.
Für die eher philosophisch oder ästhetisch interessierten Theoretiker produziert Wall, der selbst einst Kunstgeschichte studiert hat, fleissig einen eigenen Künstlerdiskurs - eine Art Nebelmeer, aus dem wie Felszacken knackige Zitate ragen: «I always begin by not photographing» - so etwa hebt der Künstler an, wenn er seine Methode erklären will. Denn Wall gehört nicht zu jenen Fotografen, die ständig mit der Leica im Anschlag durch die Gegend rennen: Wenn er etwas sieht, was ihm auf- oder gefällt, dann versucht er erst eine «kritische Distanz» dazu herzustellen - bevor er die Szene dann vielleicht nachinszeniert. Freilich interessiert ihn auch «alles, was im Verlauf des Fotografierens verloren geht». (Anmerkung für Spezialisten: Gemeint ist vielleicht das «Punctum», dem Roland Barthes in seiner «hellen Kammer» auf der Spur war - denn dieses «Punctum» hat es bei Walls inszenierten Fotografien natürlich wirklich schwer, ein Plätzchen im Bild zu finden.)
Allerdings unterscheidet Wall im Katalog zur gegenwärtigen Schau zwischen dokumentarischen Bildern, die ohne Eingriff des Künstlers entstanden sind, und «Cinematografischer Fotografie» - eine Unterscheidung, die nicht ganz unproblematisch erscheint. Wobei anzumerken ist, dass die dokumentarische Abteilung erheblich schmaler ausfällt und hauptsächlich aus Landschaftsaufnahmen oder Bildern von Alltagsgegenständen besteht, die neben den arrangierten Szenen fast ein wenig banal wirken - wenn auch gleichzeitig oft ebenso inszeniert. Ist der Verdacht der absichtsvollen Inszenierung erst einmal da, lässt er sich offensichtlich gar nicht mehr so leicht aus dem Blick räumen. (Auch dies ein postmoderner Trick, wie Spezialisten hier anmerken würden.)

Ein idealer Partner

Doch auch die weitere Familie wird von Jeff Wall optimal bedient. Den Medien liefert der Künstler Bilder, die wahre Blickfänger sind und deren technische Qualität selbst die Ansprüche der teuersten Magazine befriedigen dürfte. Auf dem Kunstmarkt hat sich der Kanadier mit Erfolg als Altmeister der inszenierten Fotografie etablieren können - und mit seinen Leuchtkästen, denen er seit Jahren treu ist, hat er sogar einen veritablen «Brand» kreiert.
Und auch für Kuratoren bietet sich Jeff Wall als ein idealer Partner an. Nicht nur, weil sich seine Bilder, wie erwähnt, in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen präsentieren lassen - selbst im Kontext klassischer Kunst, wo sie auf vielfältige Weise mit dem Benachbarten interagieren. Die Werke des bald Fünfzigjährigen eignen sich auch für eine monographische Präsentation und brauchen keinen noch so ausladend dimensionierten Schauraum zu fürchten, wie die Ausstellung in Münchenstein auf eindrückliche Weise vorführt. Ausserdem erhellen sie sich sozusagen von alleine - und was von selbst strahlt, das leuchtet schon dadurch auch irgendwie ein. Diesen Effekt hat auch die Werbung längst begriffen, deren gleissende Verführungen den Künstler ja zu dieser speziellen Präsentationsform seiner Bilder in Aluminiumkästen inspiriert haben.
Für den sagenhaften Erfolg von Jeff Wall gibt es also allerlei handfeste Gründe. Und auch wenn man sich natürlich trotzdem fragen darf, ob man denn mit diesem Superschwiegersohn wirklich auf einer Couch sitzen und mit einem Gäbelchen in der Schwarzwäldertorte herumwühlen möchte: Langweilig ist einem bei seinem Besuch in der guten Stube von Münchenstein auf jeden Fall nur ganz selten.

Jeff Wall. Photographs 1978-2004. Schaulager, Münchenstein. Bis 25. September. Zur Ausstellung ist ein Catalogue Raisonné erschienen (Steidl-Verlag, Göttingen), Fr. 55.-.



erschienen in NZZ, Samstag, 30.04.2005 / 45