Am eigenen Körper
Die künstlerische Arbeit an den Grenzen des Erträglichen ist eigentlich ein Kennzeichen der sechziger Jahre. Als Material setzten die Künstler damals allerdings vor allem ihren eigenen Körper und dessen Säfte ein: Sie pflanzten sich Rosendornen ein (Gina Pane) oder schossen sich in den Oberarm (Chris Burden), sie liessen sich ohrfeigen (Marina Abramovic), fortlaufend ästhetisch operieren (Orlan), und viele malten auch mit dem eigenen Blut, Urin, Schweiss oder Sperma.
In den neunziger Jahren erlebten solche Praktiken mit den Young British Artists eine in jeder Beziehung coole Renaissance. So machte sich etwa der Künstler Marc Quinn dadurch einen Namen, dass er ein plastisches Selbstporträt aus dem eigenen, gefrorenen Blut präsentierte. Gleichzeitig allerdings begannen die Künstler damals auch, ganz dem Delegationsgeist der neunziger Jahre entsprechend, mit den Körpern anderer Lebewesen zu experimentieren. Als Beispiel sei hier Damien Hirst genannt, der eine Kuh der Länge nach auseinander schnitt und in Formaldehyd präsentierte.
Im Jahre 1999 dann führte Harald Szeemann im Rahmen der Biennale von Venedig eine ganze Reihe von Künstlern aus China vor. Beim Gang durch die venezianischen Hallen wurde schnell einmal deutlich, dass einige dieser Künstler einen für unsere westlichen Begriffe wenig zimperlichen Umgang mit dem eigenen Körper oder auch mit dem Körper anderer Menschen oder Tiere pflegten. Das Territorium menschlicher und tierischer Körper, so konnte man daraus folgern, schien in China mit anderen Tabus belegt und mit anderen Skrupeln verknüpft als im Westen.
Manche der Arbeiten, die schon in Venedig zwiespältige Gefühle auslösten, sind nun auch in der Ausstellung «Mahjong» im Berner Kunstmuseum zu sehen, die chinesische Gegenwartskunst aus der Sammlung von Uli Sigg präsentiert (NZZ 16. 6. 05). Und eines dieser Werke, das 1999 Tausende von Besuchern im venezianischen Arsenale gesehen haben, sorgt nun für Aufregung: «Ruan», eine Vogelfigur mit menschenähnlichem Kopf, die der Künstler Xiao Yu in Formaldehyd schwimmen lässt. Für Adrien de Riedmatten, den Betreiber der Internetseite «Bureau audiovisuel francophone» (BAF), stellt das Betrachten von «Ruan» einen «grausamen Horror» dar. Für ihn steht auch fest, dass das «Machwerk» eine «originale geköpfte Möwe darstellt, auf deren Körper der echte Kopf eines Fötus oder zu früh geborenen Kindes aufgesetzt wurde». Deshalb habe er sich entschieden, die Angelegenheit vor die Justiz zu bringen.
Heikle Operationen
«Niemand weiss, ob es sich wirklich um einen menschlichen Kopf handelt», gab Bernhard Fibicher am Wochenende gegenüber den Medien bekannt. Und Xiao Yu war gestern für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Sicher bewegt sich dieser Künstler, wie andere chinesische Künstler auch, in einem für unser westliches Empfinden heiklen Grenzbereich - und vielleicht ging er auch dann und wann einen Schritt zu weit. So liest man etwa im Berner Katalog, dass Xiao Yu auch schon lebendige Mäuse «zusammenoperiert» habe und dann die «durch die plötzliche <Einleibigkeit> entstandenen Probleme» mit der Videokamera festhielt.
Ob der Künstler im Fall von «Ruan» tatsächlich den Kopf eines menschlichen Fötus verwendet hat, bleibt abzuklären - und das Resultat zu diskutieren. Das Kunstmuseum hat gestern schon deutlich gemacht, dass es zu einer solchen Diskussion auf jeden Fall bereit ist. Sollte sich die Echtheit des Fötus bestätigen, will Museumsdirektor Matthias Frehner zunächst ein Symposium mit Fachleuten aus Ethik, Kunst, Medizin und Theologie durchführen. Erst dann wird entschieden, ob das Werk aus der Ausstellung entfernt oder allenfalls in einem abgesonderten Raum gezeigt werden soll.
Die Forderung des «BAF» indes evoziert eher groteske Vorstellungen. Denn das erklärte Ziel der Klage ist es, das Kind, dessen Kopf unter dem Vorwand der Kunst missbraucht worden sei, würdig beizusetzen. Ob eine würdige Beisetzung unter den gegebenen Umständen wirklich gelingen wird, scheint doch einigermassen fraglich. Bei allen Unterschieden zwischen diesen zwei Fällen: Aus einem ähnlichen Gedanken heraus könnte man auch verlangen, Gianni Motti müsse Silvio Berlusconi das verseifte Fett zurückerstatten.
erschienen in NZZ, Feuilleton Dienstag, 09.08.2005 / 36