Samuel Herzog

Das wahre Leben - die wahre Kunst
«Von Mäusen und Menschen» - die vierte Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst

Die vierte Berliner Kunstbiennale begibt sich auf die Suche nach dem wahren Leben - und der wahren Kunst. Dabei verwandelt sie die Auguststrasse effektvoll in ein Gruselkabinett.

   Einige unter uns haben irgendwann genug. Genug davon, neue Märkte für Dünger und Saatgut zu erschliessen, Autos zu verkaufen, Kommunikationswege zu optimieren, Fluggesellschaften zu retten, mehr und mehr Geld zu verdienen. Dann, an einem regnerischen Morgen im Grand Hyatt von Tokio, erblicken wir unser Spiegelbild in dem Kaffee, der vor uns in einer Designertasse glänzt. Gräulich braun, fettig und düster schaun wir aus. Und da packt uns die grosse Krise. Wir fliegen heim, lassen uns von Familie und Firma scheiden, kaufen einen Ashram in Goa und konzentrieren uns fortan in grossen Meditationszyklen ganz auf unser Menschsein, auf die Introspektive.

   Eine ähnliche Phase der Besinnung scheint derzeit auch die Kunst zu prägen. Da gab es die Partys der neunziger Jahre, den Glitter und Glamour, die Bierbars und Massagesalons, die nichts als Wellness für unsere Haut und unsere Seele wollten. Es folgte um die Jahrtausendwende herum die grosse jetsetöse Weltumarmung: Die Qualität von Ausstellungen bemass sich nun vor allem daran, wie viele möglichst ferne Länder da mit Künstlern vertreten waren. Der 11. September und die anschliessenden Kriege provozierten dann eine ebenso kurze wie orientierungslose Phase der Politisierung. Und nun geht die Kunst wieder in sich, besinnt sich auf ihr Kerngeschäft, auf das pure, das schiere, das wahre Leben - ein Leben, das weder «well» noch lustig und auch nur selten lustvoll ist, sondern vielmehr eine Folge von Zumutungen.

Traumata, Rätsel und Unsicherheiten

   Diesen Eindruck jedenfalls vermittelt die Berliner Biennale für zeitgenössische Kunst, die derzeit zum vierten Mal durchgeführt wird. Das Thema «Berlin», das programmatisch im Zentrum der ersten drei Ausgaben stand, schlägt sich nun fast nur noch in den Veranstaltungsorten nieder. Die Schau kann als veritable «Location»-Biennale gelten, findet sie doch an nicht weniger als vierzehn verschiedenen Orten entlang der berühmten Auguststrasse in Berlin-Mitte statt.

   «Von Mäusen und Menschen» lautet das Motto dieser vierten Kunstbiennale - in Anlehnung an den gleichnamigen Roman von John Steinbeck. Auf der Einladungskarte lächelt uns ein junges Pärchen entgegen. Die zwei dürften eben in den heiligen Bund der Ehe eingetreten sein - und doch scheinen sie bereits zu wissen, wie abgrundtief sie sich in Bälde hassen werden. Das Bild von Aneta Grzesykowska passt gut zu einer Veranstaltung, die «das Leben als eine Reihe von Traumata zeigt» - und die Kunst als ein «Rätsel, das Momente der Desorientiertheit und Zustände der Unsicherheit und Zerbrechlichkeit einfängt». Angst und Paranoia, Dunkelheit und ein bedrohliches «Gefühl des In-der-Schwebe-Seins» sind Stimmungen, die diese Biennale mit Hilfe der Arbeiten von mehr als siebzig Künstlerinnen und Künstlern evozieren will. Nach einer grossartigen Theorie tönt dieses Programm des Kuratoren-Trios (Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick) nicht - eher nach der Bauanleitung für eine Geisterbahn. Aber immerhin: Im Unterschied zu vielen Veranstaltungen dieser Grössenordnung, deren Exponate das gesetzte Thema oft kaum berühren, löst diese Biennale ihr Versprechen bis zu einem gewissen Grad auch ein - insofern zumindest, als viele Arbeiten eher düster wirken, unheimlich, pessimistisch.

   In der St.-Johannes-Evangelist-Kirche etwa hängt «Mandy III» von Kris Martin - eine Anzeigetafel mit beweglichen Buchstaben, wie wir sie aus Flughäfen kennen. Doch all die Plättchen, die gewöhnliche Zahlenfolgen und Worte bilden, sind schwarz. Sie rattern und rattern, zeigen jedoch stets das gleiche Bild - ein Albtraum für Reisende, eine dunkle Metapher für das Nichts, das als letzte Tatsache hinter allen Informationen, Zielen, Bemühungen steht.

   Kaum fröhlicher geht es in den «Kunstwerken» zu, wo Bruce Naumans beunruhigende Installation «Rats and Bats» von 1988 den Auftakt bildet. Auch ein nekrophil-erotisches Vampire-Video («Life Like») von Aïda Ruilova, die kafkaesken «Capacity Men» von Thomas Schütte, die traurigen Säufer von Gillian Wearing, die röchelnde Haarsträhne von Anthony Burdin oder die apathischen Bewohner eines brennenden Hauses bei Reynold Reynolds und Patrick Jolley tragen nicht wirklich zur Gemütserheiterung bei.

   Im selben Stil geht es auf der gegenüberliegenden Strassenseite in der ehemaligen Jüdischen Mädchenschule weiter. Gleich zu Beginn führt uns hier Paul McCarty in seinen «Bang-Bang-Room» - eine Art Theater mit aufklappbaren Wänden und Türen, die mit Hilfe einer hydraulischen Mechanik plötzlich aufgehen und geräuschvoll wieder ins Schloss fallen. Noch bedrängender ist der kleine Raum, den Micol Assaël gleich nebenan eingerichtet hat: Hier blasen uns drei dröhnende Elektromotoren funkensprühend ihre warme Abluft ins Gesicht. Gleichzeitig spüren wir, wie uns Wasser auf Kopf und Schultern tropft - eine ganz und gar ungünstige Kombination. Da verweilen wir lieber etwas länger in dem Raum mit den wunderbaren Trickfilmen von Nathalie Djuberg: Auch hier bewegen wir uns zwar mehrheitlich in menschlichen Grenzbereichen - manchmal aber immerhin mit Charme, etwa in der absurden Geschichte eines Tigers, der zur melancholischen Musik einer Drehleier den Hintern einer jungen Dame leckt. An die Geschichte dieses Ortes, wo bis zur Machtübernahme der Nazis jüdische Mädchen unterrichtet wurden, erinnert Robert Kusmirowski mit seinem «Wagon» - einem 1:1 aus Holz und Pappe nachgebauten und mit viel Farbe täuschend echt bemalten Eisenbahn-Güterwagen.

   Die Räume in der ehemaligen Schule wurden ohne jede Renovation für die Ausstellung übernommen - und also hängen da noch manche Erinnerungen an den Geo-, Bio- oder Deutschunterricht während der DDR-Zeit. Das ist zwar charmant und lässt an das Berlin unmittelbar nach der Wende denken. Es führt aber auch dazu, dass öfters nicht ganz klar ist, was Reminiszenz des einstigen Schulbetriebs ist und wo die Kunst beginnt. Ausserdem wirkt der betont powere Look dieser Räume auch etwas seltsam bei einer Veranstaltung, die doch über ein ganz anständiges Budget verfügt.

Aus einer anderen Zeit

   Das Gruseln, das diese vierte Berliner Biennale provoziert, endet da, wo traditionell alles endet: auf dem Friedhof, dem Alten Garnisonsfriedhof am einen Ende der Auguststrasse. Während wir hier zwischen den Grabsteinen wandeln, begleitet uns mit sanftem Singsang die Stimme von Susan Philipsz - wie Blätter im Wind segeln die Worte und Tonfetzen auf uns herab: «one day», «follow me» . . .

   Zurückhaltung ist nicht die Stärke dieser Biennale - tatsächlich gibt es kaum einen Effekt, den sie nicht erhascht. Manchmal ist das eindrücklich - manchmal verkommt es eher zum Existenzialkitsch. Dass die Kuratoren bei der Suche nach den Unsicherheiten der Existenz mehrheitlich dann doch auf sichere Werte des Kunstbetriebs gesetzt haben, überrascht wohl kaum - bei einer solchen Grossveranstaltung gibt es eben doch manche Begehrlichkeit. Ob diese Biennale allerdings dem wahren Leben näher ist als andere Veranstaltungen dieser Art, sei dahingestellt - vielleicht würden wir nach einer tüchtigen Introspektive in einem Ashram in Goa die Antwort finden. Vielleicht aber ist uns das dann doch etwas zu weit - im Moment jedenfalls.

  Von Mäusen und Menschen. 4. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst. Berlin, Auguststrasse. Bis 28. Mai 2006. Kurzführer € 10.-, Katalog € 30.-.


erschienen in NZZ, Samstag, Freitag, 07.04.2006 / 47