Samuel Herzog

Unsere Antike, das blosse Leben - und die Frage: Was tun?
Ein Magazin will die Besucher auf die Documenta 12 vorbereiten, die im Juni in Kassel eröffnet wird

   Am 16. Juni wird in Kassel die 12. Ausgabe der Documenta eröffnet. Im Vorfeld dieser weltweit wichtigsten Kunstausstellung erscheint ein Magazin, das auf das ästhetische Erlebnis vorbereiten will.

   Die Zahl «12» hat hohen Symbolgehalt. Kaum taucht sie auf, sehen wir das dreckige Dutzend, «Twelve Monkeys» und die zwölf Apostel, dann rumpelt das Dodekaphonische los, heult uns ein Zwölfzylinder ins Ohr. Die «12» sticht hervor unter den Nummern, sie ist markant, ihre unmittelbare Wirkung kaum zu verhindern. Das Logo der kommenden Documenta allerdings bringt es fertig, diese «12» zu zähmen. Indem es, wie auf Bierdeckeln oder beim Kartenspielen, zwölf Striche nebeneinandersetzt, nimmt es der «12» ihre unmittelbare Erkennbarkeit, ihre visuelle Schlag-kraft - wird die Superzahl auf das Niveau einer «11» oder «13» herabgesetzt.

Verzicht auf Sensationen

   Und da fragen wir uns natürlich dann, ob das nicht programmatisch ist - ob Roger M. Buergel und Ruth Noack, die Leiter der Documenta 12, vielleicht ganz bewusst eine Veranstaltung planen, die sämtliche Sensationserwartungen unterläuft, die sich unauffällig oder unaufgeregt zwischen die «11» und die «13» fügen will. Die Documenta, die seit 1955 etwa alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, ist per definitionem ein herausragendes, jeweils ganz einzigartiges Kunstereignis - argwöhnisch beobachtet, scharf kritisiert und regelmässig von Skandälchen umwittert. So etwas erzeugt Druck - zumal Okwui Enwezor, der Leiter der 11. Ausgabe, seine Documenta mit dandyhaftem Charme schon Monate vor der Eröffnung geschickt in aller Munde und sämtliche Medien brachte.

   Um die 12. Documenta hingegen, die schon bald, nämlich am 16. Juni, eröffnet werden soll, war es bisher erstaunlich still. Gegen diese Ruhe versuchte man vor einigen Tagen in der Wiener Secession anzugehen - mit der partylauten Vernissage eines Magazins, das der kommenden Documenta ein paar theoretische Überlegungen vorausschicken soll. Für die Veranstalter war das ein Heimspiel, denn sowohl die Documenta-Leiter wie auch Georg Schöllhammer, der Herausgeber des Magazins, sind in Wien zu Hause. Bei der Präsentation des Hefts für die Presse war man denn auch spürbar unter seinesgleichen. Das Chaos aus Missverständnissen, sprachlichen und begrifflichen Differenzen, das Documenta-Veranstaltungen so oft charakterisiert, blieb bei diesem Anlass aus.

   In Vorbereitung seiner Ausstellung hatte Okwui Enwezor fünf sogenannte Plattformen organisiert - Symposien an ausgefallenen Ecken der Welt, in deren Rahmen die grossen Fragen der Documenta vorab diskutiert und die ästhetischen Ereignisse der Schau theoretisch abgefedert wurden. Ziel dieser Unterfangen war es auch, die Diskussion um Möglichkeiten, Grenzen, Aufgaben usw. dieser weltweit bedeutendsten Kunstausstellung zu einer globalen Diskussion zu machen - die Wissensfenster der damals sieben Kuratoren um weitere Öffnungen zu bereichern. Aus einem ähnlichen Geist heraus haben Buergel und Noack die Zusammenarbeit mit mehr als neunzig Kunstzeitschriften und Online-Magazinen aus allen Ländern dieser Welt gesucht - von «A Prior» aus Gent bis «Zehar» aus San Sebastián. Diese wurden eingeladen, die Leitfragen der Ausstellung im Rahmen ihrer Publikationen zu diskutieren. Eine Auswahl der dabei produzierten Bild- und Textmasse wird vor Eröffnung der Documenta in drei Ausgaben eines Magazins publiziert, dessen erster Band nun vorliegt.

   Buergel und Noack haben sich für ihre Documenta drei leitmotivische Fragen überlegt: Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das blosse Leiben? Und die Frage der Bildung: Was tun? Dem entsprechen auch die Themen der drei Hefte: «Modernity», «Life!» und «Education». Auf die Frage, in welchem Verhältnis zur Ausstellung die Magazine stünden, meinte Buergel, «in Korrespondenz» - die Antwort muss man sich merken. Wenn es nach dem künstlerischen Leiter der Documenta geht, sollen die drei Hefte «dem interessierten Publikum das Wissen an die Hand geben, das dieses braucht, um sich im Raum der Ausstellung kompetent und daher entspannt bewegen zu können» - so die offizielle Verlautbarung.

   Im Editorial zur ersten Nummer des Magazins spricht der Herausgeber Georg Schöllhammer von einer «Art Propädeutik, einem exemplarischen Aufriss» und macht auch sogleich deutlich, um welche Moderne es in diesem ersten Heft geht: «Die Arbeiten von Künstlerinnen, die Sie in ihm porträtiert finden, arbeiten sich am Formbegriff, einem signifikanten Diskurs der Moderne, ab. Sie stammen zum Grossteil aus den 1960er und frühen 1970er Jahren, einem für die Ge-schichte der Gegenwartskunst entscheidenden Moment.» Das tönt nach schwerer Kost - und wer das gut zweihundert Seiten starke Heft öffnet, sieht sich in solchen Erwartungen bestätigt: Das Layout ist eher trocken, die Schrift ist klein, und die Zeilen sind so lange, dass man mit dem Lesen gar nicht recht anfangen mag.

   Dann allerdings, wenn man sich pflichtbewusst da und dort auf die Lektüre eingelassen hat, lichtet sich das diskursive Grau. Das Heft bietet bei allen staubigen Strecken, die wohl bei dem Thema kaum zu vermeiden sind, doch auch manch überraschende Geschichte. Gao Minglu etwa liefert eine gescheite Analyse des Sonderfalls der chinesischen Avantgarde der 1980er Jahre und vergleicht diese mit westlichen Phänomenen der 1970er Jahre. Rubén Gallo erzählt die bizarre Story von El Buen Tono, Mexikos grösstem Tabakunternehmen, das 1923 einen eigenen Radiosender ins Leben rief. Und Helena Mattsson und Sven-Olov Wallenstein analysieren den Sonderweg des schwedischen Modernismus.

Ansprüche reduzieren

   Da und dort werden in diesem Heft Herangehensweisen spürbar, die frei sind von jener Gesamtweltkompetenz, die Kunstdiskurse oft ebenso unverbindlich wie unverdaulich macht. Da wird mit Beispielen gearbeitet, geht es konkret zur Sache. - Buergel selbst ist in seinem Eröffnungstext darauf aus, eventuellen Ansprüchen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bei einem Blick auf die Anfänge der Documenta, so schreibt er, «verliert sich der ganze Ballast an Erwartungen und Projektionen, der auf dieser Ausstellung lastet wie ein Sack mit Wackersteinen.» Solchen Manövern zum Trotz sind wir zuversichtlich, dass die Ausstellung zum Schluss doch nicht ganz so bescheiden wird, wie das Buergels Worte und seine betont gelangweilten Auftritte erwarten lassen - wer weiss, vielleicht bekennt sich die Documenta ja plötzlich auch noch stolz zu der «12», die ihr das Logo vorsorglich vom Rücken genommen hat.

   Documenta 12 Magazine No. 1, Modernity? (Taschen-Verlag, Köln 2007), € 12.-.


erschienen in NZZ, Dienstag, 20.03.2007 / 43