Samuel Herzog

Pinocchios Nase


Frankreich feiert die Kraft seiner Kunst mit einer Ausstellung im Grand Palais

   Ein Boeuf bourguignon, ein perigourdinisches Confit de Canard, eine Daube à la provençale oder ein anderes Wunder französischer Gastronomie mögen noch so lecker schmecken - hat man zuvor einen Blick in die schmuddelige Küche geworfen, dann kaut bei jedem Bissen doch auch das Unbehagen mit. Ähnlich mag es den Besuchern des Pariser Grand Palais gehen, wo nach Jahren der Restauration erstmals wieder eine Kunstausstellung durchgeführt wird. «La Force de l'Art» heisst die Schau, die sich da unter dem riesigen Glasgewölbe gegen die Wucht der metallenen Jugendstilverzierungen durchsetzen muss - ein Titel, bei dessen Klang der Körper sofort salutieren möchte. Ziel der Schau ist es, die Vitalität der künstlerischen Produktion in Frankreich vorzuführen - ähnlich, wie das die Amerikaner mit ihrer Whitney-Biennale oder die Engländer mit ihrer Tate Triennial tun.

Airforce statt Artforce

   Das Projekt geht auf einen Einfall von Frankreichs Premierminister Dominique de Villepin zurück, der anlässlich der Eröffnung der Pariser Kunstmesse FIAC im Oktober letzten Jahres bekannt gab, er wolle aus Frankreich wieder «l'un des foyers les plus vivants de la création» machen. Wenig später kündete er eine grosse Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst an, und zwar - als verwechsle er da Airforce mit Artforce - schon für den kommenden Frühling. Damit setzte er die Finanz- und Kulturministerien arg unter Druck - zumal die Verantwortlichen erst Mitte April offiziell über diesen neuen Posten im bereits laufenden Budget informiert wurden. In einem Schreiben wies die Réunion des musées nationaux (RMN), die für das Unternehmen verantwortlich zeichnen musste, auf Mängel bei der Budgetierung der Schau und auf die Folgen dieser Zusatzbelastung für die sonstige Arbeit der RMN hin - ohne Erfolg, blieb der Minister doch fest auf Kurs.

   Auch bei der Vergabe der Aufträge für die logistische Betreuung des Projekts gab es Unstimmigkeiten - ebenso wie bei der Besetzung des Kuratoriums: Nach einigem Hin und Her wurden schliesslich ganze fünfzehn Kuratoren berufen, unabhängig voneinander fünfzehn einzelne Ausstellungen zu gestalten. Auf einen Gesamtentwurf wurde damit verzichtet. Aber angesichts der Geschwindigkeit, mit der dieses Drei-Millionen-Euro-Projekt aus dem Boden gestampft wurde, wäre ein umfassenderes Konzept wohl ohnehin kaum zu entwickeln gewesen. All dies trug der Schau im Vorfeld viel schlechte Presse ein - kein guter Start für eine Veranstaltung, die künftig alle drei Jahre die französische Schaffenskraft feiern will.

   Im Vergleich zu den politischen Aufregungen während ihrer Vorbereitung kommt die Ausstellung selbst sehr entspannt daher - was kaum erstaunt, sind die meisten der fünfzehn Kuratoren doch feuergeprüfte Profis mit stosssicheren Konzepten und wasserdichten Künstlerlisten. Die gut siebentausend Quadratmeter grosse Ausstellungsfläche wurde egalitär unter ihnen aufgeteilt. Jeder Kurator war angehalten, seiner Präsentation ein Thema zu geben oder einen persönlichen Schwerpunkt zu setzen - und alle haben das mustergültig erfüllt. Allerdings gleitet man, da die Übergänge von einer Ausstellungssektion zur nächsten nicht eben aufdringlich markiert sind, in Sachen Theorie nahezu unbehelligt von Abteilung zu Abteilung.

   Bei den mehr als dreihundert Künstlerinnen und Künstlern, die in dieser Schau mit Werken aus den letzten zehn bis fünfzehn Jahren vertreten sind, ist die Vielfalt natürlich gross. Und doch gibt es eine Art Sediment, auf das man in der Ausstellung immer wieder stösst: Es ist eine eher provokante Form von Humor, die vielleicht die Gegenwartskunst insgesamt (McCarthy, Cattelan, Gelitin usw.), sicher aber einen Grossteil der französischen Produktion dieser letzten Jahre prägt. Besonders deutlich tritt dieser Witz in den drei Sektionen zutage, die Paul Ardenne, Éric Troncy und Bernard Marcadé gestaltet haben. Der Kunsthistoriker Paul Ardenne etwa zeigt unter dem Titel «Interpositions» ein ganzes Feuerwerk ironischer Gesten: Bertrand Lavier setzt das berühmte Sofa in Form eines Kussmundes aus dem Studio 65 auf eine Tiefkühltruhe und tauft dieses doppelte Ready-Made schlicht «La Bocca / Bosch»; Christophe Berdaguer und Marie Péjus errichten einen «Divan» über einem Stapel psychoanalytischer Publikationen - und Olivier Leroi schliesslich bittet uns an einen Tisch, dessen Beine aus den Nasen und ebenso langen Geschlechtsteilen von vier Pinocchio-Figuren bestehen.

   Auf knirschende Weise lustig geht es auch in der von Eric Troncy (Consortium Dijon) gestalteten Abteilung zu, deren Titel «Superdéfense» die Schlagkraft des Gesamtprojektes im Grand Palais zu parodieren scheint. Da treffen wir zum Beispiel auf ein aus Rattan geflochtenes «Squelette» von Xavier Veilhan oder auf ein Porträt des Kunstsammlers François Pinault, der als «Capitaine Némo» mit visionär glitzernden Äuglein und dressiertem Seehund durch eine von Pierre & Gilles gestaltete Tiefsee steuert.

Fürchten statt Glauben

   In der von Bernard Marcadé kuratierten Abteilung lässt schon der Titel erahnen, wohin die Reise geht: «Je ne crois pas aux fantômes, mais j'en ai peur». Bruno Peinado zeigt da ein mehr als mannshohes, schwarzes Michelin-Männchen mit gewaltigem Kraushaar, auf dessen Brust in Spiegelschrift «The Big One World» geschrieben steht - ganz als nähmen wir selbst «Black Power» nur noch im Rückspiegel des Rennwagens wahr, mit dem wir in die globale Zukunft donnern. Einen ironischen Bezug zur Vorgeschichte dieser Ausstellung kann man auch aus der Installation «Faire des cartes de France» (2000) von Annette Messager herauslesen.

   Hinter einem wandfüllenden Netz hat sie Zeichnungen montiert, auf denen sie die Karte Frankreichs mit Hilfe von verschiedenen Figuren gestaltet: «La France Picasso» ist aus einem Gesicht geformt, das aus den «Demoiselles d'Avignon» entliehen scheint; aus der «France des vaches folles» grinst uns ein Haufen Rindviecher entgegen, und für «La Chiraquie» nutz sie geschickt die markante Nase des Präsidenten, um die Bretagne auszuformen.

   So reichhaltig das Angebot auch ist - hat man die siebentausend Quadratmeter abgeschritten, kommen einem doch leise Zweifel am Sinn eines solchen Grossunternehmens. Viele der gezeigten Werke hat man in anderen Zusammenhängen schon mindestens genauso gut sehen können - und manche Arbeit, die Zeit beansprucht, wäre in einem kleineren Kontext wohl besser aufgehoben. Wem dient die Sache also am meisten? Der Kunst? Frankreich? Dem Minister? - Sicher geht auch das Publikum nicht ganz leer aus. Ja, wer die Vorgeschichte ignorieren kann, wird die Ausstellung mit einem gewissen Genuss beschlendern können. Gelingt das nicht, vergeht einem möglicherweise nach den ersten Augenhappen schon sehr schnell der Appetit.


erschienen in NZZ, Mittwoch, 14.03.2007 / 45