Samuel Herzog

Hüsteln im Paradies


«Ars 06» - eine Ausstellung im Kiasma-Museum für zeitgenössische Kunst von Helsinki

   Und eines Tages dann stehen wir, trotz Überlebensbekleidung aus dem Outdoor-Shop halb steif gefroren, mitten auf dem Finnischen Meerbusen. Unter unseren Füssen Eis, in unserem Rücken die vor Helsinki lagernden Inselchen und vor uns schneeweiss die Weite des Meeres. Ein begehbarer Ozean - eigentlich könnten wir jetzt ganz einfach losspazieren, Richtung Süden, der schwedischen Küste entlang, dann an Dänemark vorbei nach Westen, weiter nach Süden - und irgendwann kämen wir so in die Karibik, in dieses irdische Paradies, wo es immer warm ist und immer feucht. Wenn einem die Nasenhaare gefroren sind, dann liegt der Gedanke an tropische Paradiese nah. Und wenn man seine Füsse nicht mehr spürt, dann legt sich wenigstens das Hirn gerne mit einem Mojito unter Palmen.

Mit Fensterchen zur Hölle

   Paradiese sind auch ein wichtiges Leitmotiv der umfangreichen Ausstellung, die derzeit im Kiasma-Museum für zeitgenössische Kunst von Helsinki stattfindet: «Ars 06» ist die siebte Ausgabe einer Reihe von grossen Kunstereignissen, die bereits 1961 mit der ersten «Ars» ihren Anfang nahm - eine kleine Documenta des hohen Nordens. Vierzig Künstler aus über zwanzig Ländern füllen in der gegenwärtigen Ausgabe mit mehr als hundert Werken alle fünf Etagen des Kiasma-Gebäudes.

   Natürlich sind es ambivalente Paradiese, die da vorgeführt werden - denn was ein rechtes Paradies sein will, muss auch irgendwo ein Fensterchen zur Hölle haben. Nehmen wir zum Beispiel das wunderbare Video «Rompers» von Motohiko Odani (geb. 1972) aus Japan: Vor einem wolkenlos blauen Himmel sitzt da ein Mädchen auf dem Ast eines Baumes und trällert mit glockenheller Stimme ein Liedchen in die zweifellos frühlingswarme Luft. «Tralalalala» - ihr Teint ist rosig, ihre Haare sind schwarz, und auf dem Kleidchen, das ihr etwas hochgerutscht ist, sind kleine Röschen zu Sträusschen gebunden. «Tralalalala» - aus dem Baum fliesst Harz oder Honig, die Frösche hüpfen Ringelpiez, die Fliegen schwärmen in Herzformation durch die Luft, und sogar das Huhn hat sich für diese ewig heitere Sonntagswelt ein paar besonders farbige Schwanzfedern zugelegt. «Tralalalala» - doch dann wird es plötzlich ein wenig grausam: Da entdeckt das Paradieshuhn einen Wurm und schlürft ihn wie ein Spaghetti in sich hinein - so will es die Natur. Und kurz darauf richten sich auch die grünen Augen des Mädchens auf einen kulinarisch interessanten Flugkörper - mit einem schnellen Zungenschlag wird er zum Frühstück gemacht. «Tralalalala» - so ist das Leben im Garten Eden.

   Auch das Schweizer Künstlerduo Gerda Steiner (geb. 1967) und Jörg Lenzlinger (geb. 1964) entführt den Besucher in ein Gärtchen von paradiesischer Anmut. Im Zentrum der Installation liegt ein kleiner See, halb versteckt in einem Gebüsch aus wundersamsten Pflanzen, die mehr als exotische Blüten treiben. Am Ufer ist ein halbes naturhistorisches Museum dekorativ in Szene gesetzt: Da fletscht ein Eisbär seine Zähne, macht sich ein Hase bereit zur Flucht, dort reckt ein Steinbock das Gehörn, legt ein Kakadu den Kopf ganz eitel in den Nacken. Und hinter dem Gebüsch, im länglichen Lichthof des Museums, rauschen mit weit ausgebreiteten Flügeln fünf mächtige Schwäne herbei. «Swan Lake» heisst das zarte Paradies. Doch wer sich auf die Parkbank setzt, um all die Schönheit visuell tief einzuatmen, den packt bald ein arges Augenhüsteln: Entpuppt sich doch der Schwanensee bei genauerer Prüfung als eine übelriechende Öllache, die zarten Blüten am Ufer sind höchstwahrscheinlich das Resultat eines Chemieunfalls - und aus dem Blumenbeet quellen statt Geranien nur Teilchen von Elektroschrott.

   Paradiesisch wirken auf ihre Art auch die schneebedeckten Berge, die Mariele Neudecker (geb. 1965) aus Deutschland uns in Glaskästen vorführt. Auf wundersame Weise scheinen sie alle mehr oder weniger stark von Nebel verhangen - gerade das stachelt unsere Neugier zusätzlich an. Und also klettert unser Blick bald ganz emsig durch diese Wunderwelten hindurch, in denen wir mehr und mehr auch Spuren von Zivilisation entdecken oder im Dunstigen zumindest erahnen: Wetterstationen und Strassen, Tunnels und in den Tälern kleine Häuser und Fabriken. «Think of One Thing» nennt die Künstlerin ihre Installation - wir denken uns was aus für diese Winterreise eigener Art.

Zen-Weiher und Schneekugeln

   «Sense of the Real» lautet der Untertitel der grossen «Ars»-Schau. Und das passt - auch zu den ganzen Paradiesen, die hier in Szene gesetzt sind. Denn zeichnet sich unser Realitätssinn, unser Gefühl für die Wirklichkeit nicht gerade auch dadurch aus, dass wir ständig mit Paradiesesvorstellungen auf der einen Seite - und manchmal fast höllischen Ängsten auf der anderen Seite verhandeln?

   Auf Paradiese mit mehr oder weniger gut eingefetteten Rutschbahnen in die Hölle trifft man jedenfalls an allen Ecken und Enden dieser Schau. Wir finden sie in den Schneekugeln von Walter Martin und Paloma Muñoz, in den Ku-Klux-Klan-Idyllen von Kent Henricksen aus den USA, am interaktiven Zen-Weiher von Shu-Min Lin aus Taiwan, in den Zahlenhexereien von Charles Sandison aus Finnland, in den Malereien der Österreicher Muntean/Rosenblum und in dem bizarren Videogemälde «In Orgia» von Lars Nilsson aus Schweden. Ja, und wenn es mit dem Paradiesischen einmal gar nicht mehr klappen sollte, dann können wir uns wenigstens noch bei dem «Complaints Chor» der Finnen Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen anmelden - und alsdann unsere Klagen mit Melodie und Rhythmus gegen den Himmel schmettern.

   Warum nur ist es hier so kalt? Warum haben mich meine Hightech-Socken im Stich gelassen? Ist es normal, dass da ein Schwan ganz unbequem auf dem blossen Eise sitzt? Und überhaupt: Die Welt ist nicht mehr, was sie war - selbst ins Paradies müssen wir heute zu Fuss.

Ars 06 - Sense of the Real. Kiasma-Museum für zeitgenössische Kunst, Helsinki. Bis 27. August 2006.


erschienen in NZZ, Dienstag, 07.03.2006 / 37