In vielen Fischgeschäften Norwegens hängt ein Plakat mit der schematischen Zeichnung eines Walfisches, dessen Leib in rund sechzig Kompartimente unterteilt ist. Jedem dieser Sektoren ist, ähnlich wie bei einer klassischen Schlachtanleitung, eine bestimmte Zubereitungsart des Hvalbiff zugewiesen: von Hakebiff über Biff à la Lindstrøm oder Jegerbiff bis Meksikansk Biffgryte. Das illustriert, auf welch vielfältige Weise man im hohen Norden am Walfisch hängt. Nun haben sich die Norweger mit ihrer Weidmanns-Liebe zum Wal nicht nur Freunde gemacht - und doch: Wenn man das saftige Fleisch mit den kurzen Fasern und dem angenehmen Lebergeschmack probiert, dann kann man zumindest kulinarisch nachvollziehen, warum sie von ihrem Hvalkjøtt einfach nicht lassen wollen.
Würde man nun auch Norwegens Kunstszene als Walfisch darstellen, so könnte man den Körper wohl in ebenso viele Kompartimente unterteilen - die einzelnen Sektoren würden dann zum Beispiel die verschiedenen Preise und Stipendien meinen, die Norwegens Künstler recht gut ernähren. Oder aber sie würden die zahlreichen Museen bezeichnen, die das mit fünf Millionen Einwohnern sehr dünn besiedelte Norwegen als verhältnismässig dichte Ausstellungslandschaft erscheinen lassen. Gerade die zeitgenössische Kunst, die es sonst ja in vielen Ländern eher schwer hat, scheint in dem dank Ölfunden plötzlich reich gewordenen Land der Fjorde ziemlich hoch im Kurs zu stehen.
Diesen Eindruck jedenfalls vermittelt eine Visite in Oslo, wo populäre Institutionen wie das Munch-Museum, das Schifffahrtsmuseum, das Frammuseet oder das Haus der Kontiki jährlich (nebst ein paar Kunstdieben) mehr als eine Million reguläre Besucher anlocken. Die Stadt mit ihren rund 500 000 Einwohnern verfügt über volle vier nichtkommerzielle Institutionen, die sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigen. Das sind fast schon Schweizer Verhältnisse. Die Nationalgalerie zeigt, nebst einem experimentell gehängten Querschnitt durch die Kunst der letzten zwei Jahrhunderte, derzeit vor allem die Ausstellung «Don Quijote» (bis 13. August) - eine Schau mit Werken zeitgenössischer Spanier, die sich auf die eine oder andere Art mit der wohl berühmtesten Figur der iberischen Literatur beschäftigt haben. In der Ausstellung, die das ganze Erdgeschoss des ehrwürdigen Kunstpalastes füllt, finden sich Werke wie Eduardo Arroyos komisches Porträt des Helden mit einem Topf als Helm oder Miquel Navarros hölzerne Skulptur eines Speers. Alberto Corazón hat dem mechanischen Pferd ein Denkmal gesetzt, auf dem der Ritter und sein Knappe zu den Sternen fliegen - und Javier Pérez führt uns mit seiner düsteren Skulptur das «Gewicht der Realität» vor, das auch den furchtlosen Don Quijote gelegentlich vom Gaul seiner Phantasien geholt hat.
Wer sich dazu durchringen kann, die majestätische Cafeteria des Hauses doch noch zu verlassen, trifft bereits auf dem Tullinløkka-Platz hinter der Nationalgalerie auf die nächste Institution für zeitgenössische Kunst. Hier steht, eine futuristische Blase auf dünnen Streben, die Kunsthalle von Oslo. Unter dem Titel «Tingens tilstand» («Der Stand der Dinge», bis 10. September) werden in dem mauerlosen Schlauchraum Objekte zwischen Design, Mode und Kunst vorgeführt. All diese Dinge sind laut Pressetext als Teile von Lebenswelten zu verstehen, die sich einzelne Gruppen oder Individuen selbst geschaffen haben - Versuche also, die eigene Umwelt aktiv zu gestalten. Da gibt es die bizarren Objekte der Idiots zu sehen - etwa die Skulptur einer schlafenden Löwin, deren Hinterteil sich in goldene Tropfen auflöst. Die Gruppe Revolutions on Request neckt uns mit süsslichen Stickereien oder mit dreidimensionalen Puzzleteilen, die zusammengesetzt die Schädel eines Affen oder eines Menschen ergeben. Und auf dem Platz vor der grossen Blase dürfen Kunstradler - auf eigene Gefahr - einen abenteuerlichen Parcours befahren, den Martino Gamper aus Fichtenholz errichtet hat.
Das Museum für zeitgenössische Kunst, das in einem ehemaligen Jugendstil-Bankgebäude am Bankplassen eingerichtet ist, präsentiert im Obergeschoss einen Querschnitt durch seine Sammlungen aktueller Kunst. Im Parterre, das gewöhnlich ebenfalls für Kunstausstellungen reserviert ist, werden derzeit die exotischen Entwürfe des norwegischen Modedesigners Per Spook präsentiert (bis 17. September).
Das vierte Haus für zeitgenössische Kunst schliesslich ist das Astrup Fearnley Museet for Moderne Kunst, das 1993 von der gleichnamigen Ölfirma gegründet wurde. Die Institution verfügt über eine ausgezeichnete Sammlung zeitgenössischer Werke - eine kleine, regelmässig wechselnde Auswahl wird jeweils im Untergeschoss des Museums an der Dronningensgata gezeigt. Derzeit sind unter dem Titel «Not all is visible» (bis 27. August) einige Klassiker von Damien Hirst, Matthew Barney, Olafur Eliasson oder Felix Gonzales-Torres ins Lampenlicht gerückt. Einen Höhepunkt der feinen Schau stellt ein Besuch in dem kleinen Theater von Janet Cardiff & George Bures Miller dar, die uns mit ihrem «Paradise Institute» in einen Bereich zwischen verschiedenen Realitäten und Fiktionen entführen. Das Parterre ist für Wechselausstellungen reserviert - gegenwärtig gibt es hier eine Retrospektive von Knut Åsdam zu sehen (bis 3. September). Berühmt geworden ist der Norweger dank einem rund einminütigen Video: Wir sehen den Hüftbereich einer weissen Hose mit Latz und Falten. Plötzlich macht sich da ein kleiner, wässriger Fleck bemerkbar, der schnell grösser und grösser wird - «Pissing» heisst das ebenso kleine wie gemeine Stück.
Insgesamt bieten diese vier Institutionen sehr viel zeitgenössische Kunst für eine so kleine Stadt - der Eintritt übrigens ist in allen vier Häusern frei. Wer hingegen den verstaubten Walfisch sehen will, den phantasievolle Ausstellungsmacher einst kunstvoll unter das vor sich hin gammelnde Floss «Kontiki» des Ethnologen Thor Heyerdahl gehängt haben, der muss ziemlich tief in die Tasche greifen. Es gibt eben doch eine ausgleichende Gerechtigkeit.
erschienen in NZZ, Samstag, 05.08.2006 / 42