Es ist ein wenig wie Fliegen. Wer auf den vier Rolltreppen in der Fassade des Centre Georges-Pompidou in die oberen Stockwerke des Gebäudes gleitet, hebt ganz allmählich ab: immer mehr Licht, immer mehr Himmel, immer mehr Pariser Dachlandschaft zu seinen Füssen - und ganz zum Schluss dann eine kleine Plattform aus Glas, von der aus man sich die nächste Treppe ganz automatisch imaginiert. Gewöhnlich führen Rolltreppen ja im Zickzack in die Höhe, wie Bergpfade, auf denen man sich mühsam das Recht erklimmt, seine Wurst mit Aussicht zu geniessen. Und auch wenn man dabei nicht wirklich ins Schwitzen kommt, so hat dieses Hin und Her doch mit Anstrengung, mit Arbeit zu tun. Im «Beaubourg» aber sind diese Treppen als Suite angelegt, was den Aufstieg zur Auffahrt werden lässt, die Arbeit zur Mini-Apotheose.
Vergleichbare Erhebung beschert einem die Kunst nur selten - auch wenn man ihr nachsagt, dass sie gelegentlich Flügel verleiht. Und doch ist man im «Pompidou» besser auf Berauschung eingestellt als in jeder anderen Institution. Das hat den zahllosen Ausstellungen sicher nicht geschadet, die hier in den letzten dreissig Jahren stattgefunden haben.
Als das von Renzo Piano und Richard Rogers erbaute Centre Georges-Pompidou am 31. Januar 1977 eröffnet wurde, war die bürgerliche Kultur in einer Krise - provoziert durch die diversen Kriege nach dem vermeintlich letzten Krieg der Welt, durch die Proteste der 68er Bewegung und ihre Folgen. Auf seltsame Weise scheint die Stimmung jener Tage an dem Gebäude zu haften: So zukunftsgerichtet es wirken mag - es macht gerade durch seine forciert visionäre Haltung auch die Angst sichtbar, dass die Welt morgen untergehen könnte.
Doch auch das hat dem Centre nicht geschadet, das sich innert kürzester Zeit zu einer in alle Richtungen hin aktiven Kulturfabrik entwickelte: Von der Bibliothek über Kinos bis zum Theater, vom Institut für akustische-musikalische Forschung und Kreation bis zum Museum für Kunst der Moderne gab es in dieser Institution Kultur en masse nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu reflektieren und zu produzieren. - Natürlich wich der anfängliche Elan mit der Zeit einer gewissen Routine, verlor man hinter den hohen Wogen des anhaltenden Publikumserfolgs manches Ziel aus den Augen. Als man das Zentrum 1997 für dringend nötige Renovationen schloss, war klar, dass man ihm zugleich auch eine konzeptuelle Auffrischung verpassen würde.
Die auffälligste Veränderung geschah auf der Ebene des Musée d'art moderne: Zur Wiedereröffnung im Jahr 2000 präsentierte Direktor Werner Spies mehr als tausend Exponate aus der riesigen Sammlung des Hauses auf einer um die Hälfte vergrösserten Ausstellungsfläche. Neu zeigte er die Moderne als eine Geschichte der multiplen Wechselwirkungen zwischen Kunst, Design, Architektur, Film, geistigen und technischen Innovationen. Auch zur Feier des dreissigsten Jahres wird die Sammlung ab morgen wieder frisch präsentiert. Nun rückt das Haus monographische Schwerpunkte seiner Kollektion in den Vordergrund und führt die Heroen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in kleinen Einzelausstellungen vor: Kandinsky, Matisse, Picasso, Braque, Léger, Rouault, Giacometti, Miró, Dubuffet und Hantaï, die Fotografen Man Ray, Moholy Nagy und Brassaï, die Architekten und Designer Chareau und Prouvé. Dieser Reigen wird von thematischen Sälen unterbrochen, in denen etwa die Galerie Maeght oder das Bauhaus vorgestellt werden. In Ergänzung dazu werden 500 historische Zeitschriften aus den Beständen der Bibliothèque Kandinsky präsentiert.
Insgesamt fallen die Feierlichkeiten zum dreissigsten Geburtstag eher mager aus. Pipilotti Rist darf in den Februarnächten ihr Video «A la belle étoile» auf die Fassade des Hauses projizieren. Und natürlich gibt es eine offizielle Zeremonie. Im Vergleich zu dem Volksfest bei der Wiedereröffnung im Jahr 2000 ist das ein Klacks.
Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass sich die Energien des Centre nicht mehr ausschliesslich auf sein Flaggschiff an der Rue Beaubourg beschränken. In Metz baut der japanische Architekt Shigeru Ban bereits jetzt einen ersten Satelliten des «Pompidou». Und in Schanghai will sich das Centre in einem Gebäude aus den zwanziger Jahren präsentieren. Ziel solcher Vorhaben ist es, mehr Profit aus der rund 50 000 Objekte umfassende Sammlung zu schlagen - so, wie das die Guggenheim Collection schon seit Jahren vormacht. Es soll auch Verhandlungen mit Singapur geben, wo das «Pompidou» in einem riesigen Shopping-Komplex eine Filiale eröffnen könnte - neben einem Spielkasino und einem gigantischen Aquarium, in dem es lebende Walfische zu bestaunen gibt: «whale watching» und «art spotting» - vielleicht keine schlechte Kombination. Sie erinnert ein wenig an die Forderung von Izak Boukman, dass man doch sämtliche Museen in die Flughäfen der Städte verlegen soll, wo die Menschen mehr Zeit haben als irgendwo sonst. Und auch da wären sie ja dann wieder zusammen: die Kunst und die Fliegerei.