«Hot Pot» nennen Schanghais Restaurants (auf Englisch) einen Topf, in dem Fleisch, Fisch und Gemüse bei Tisch gegart werden. Meist sind diese Gerichte würzig und mild bis angenehm scharf. Wer jedoch je im Restaurant «Sonne des Südens» einen «Hot Pot» mit Huhn und Glückspfeffer be-stellt hat, der versteht dann plötzlich auch den Spruch auf der Speisekarte: «Wer hier isst, der wandelt sich und vergisst, wo er ist.» Die Verwandlung beginnt im Magen, der Alarmsignale an alle Organe verschickt. Ein Surren geht durch den Körper, sämtliche Schleimhäute scheinen sich zusammenzuziehen, dann flattert das Herz, Schweiss tritt aus, wo er kann, Schwindel befällt den Kopf, und endlich, fast schon eine Erleichterung, brennen Zunge, Mund und Rachen.
Auch die Kunstszene Schanghais wird von Kennern gelegentlich als ein «Hot Pot» beschrieben, in dem schon heute die Ingredienzien der Kunst von morgen schmoren. Nimmt man den Markt zum Massstab, dann ist man geneigt, ihnen recht zu geben: Kaum ein anderer Bereich hat sich in den letzten Jahren so boomartig entwickelt wie der Verkauf von chinesischer Gegenwartskunst. Bisher fanden sich die Kunden vorwiegend im Westen. Experten erwarten jedoch, dass auch die Chinesen selbst bald einsteigen werden - wobei sie sich zunächst wohl vor allem für Arbeiten jener Landsleute interessieren dürften, die im Westen bereits Anerkennung gefunden haben. Begonnen hat der China-Boom in der Kunst mit dem Jahr 1999, als Harald Szeemann auf seiner ersten Biennale von Venedig fast ausschliesslich Kunst aus der Volksrepublik präsentierte. Seither war Kunst «made in China» immer wieder Thema in den Museen und Galerien Europas - heute mehr denn je (siehe Kasten). - Was aber ist alles drin im «Hot Pot» Schanghai? Was für Institutionen gibt es in dieser Zwanzig-Millionen-Stadt, die auch im Bereich der Kunst mit Peking um den ersten Platz im Lande ringt?
Eine markante Zutat ist sicher die Schanghai-Biennale für zeitgenössische Kunst, die derzeit zum sechsten Mal im Shanghai Art Museum an der Nan Jing Road durchgeführt wird (bis 5. November 2006, www.sh-artmuseum.org.cn). Wer über die vier Stockwerke des Museums schlendert, auf denen die Arbeiten von nahezu hundert Künstlerinnen und Künstlern aus gut zwei Dutzend Ländern versammelt sind, fühlt sich durchaus biennalig und wohl. Die Räume dieses ehemaligen Pferdesport-Klubs sind zwar manchmal etwas zu klein und zu niedrig. Die Schau selbst aber ist durchaus professionell in Szene gesetzt, die Mischung aus Wohlvertrautem und Neuem stimmt, und die Vermittlung ist gut - auch wenn die Texte, in der englischen Übersetzung zumindest, dann und wann etwas pathetisch geraten sind. Die Biennale hat es sich zum Ziel gesetzt, unter dem Titel «Hyper Design» die Schnittstellen zwischen Kunst, Design und Leben, zwischen Imagination und Kalkulation aufzuzeigen - ein recht breit gefasstes Thema, das kaum gänzlich verfehlt werden kann.
Schon im Renmin-Park (Volkspark) vor dem Museum gibt es ein Nest mit riesigem Ei zu entdecken, das Peter Callesen aus Dänemark mit viel poetischer Absicht in die Mitte eines kleinen Teichs gesetzt hat. Das noch Ungeborene auf dem Wasser - und am Rande des Tümpels Schanghais Pensionäre, die sich dem Kartenspiel hingeben. Wechseln wir ins Innere des Museums. Gleich im ersten Saal der Schau lässt uns der Chinese Zhan Wang in eine kleine Kapelle treten, von deren Wänden uns gläserne Buddhas entgegenlächeln. Ihre Körper sind mit farbigen Pillen aller Art gefüllt - «Buddhist Pharmacy» heisst dieser Laden, der uns Erleuchtung durch Chemie zu versprechen scheint. Der in Peru lebende Chan Yau Kin zeigt Logos von globalen Firmen wie Coca-Cola, Adidas oder IBM, die bei genauerem Hinsehen aus lauter Logos der jeweiligen Konkurrenten (Pepsi, Nike und Macintosh) bestehen - «A Brand New Game».
Der Japaner Tetsuya Nakamura führt mit seinen «Speed Kings» die Formel-1-Raketen der Zukunft vor - und die chinesische Mindicraft Group arbeitet sich an den handwerklichen Techniken der Vergangenheit ab. Der Brite Julian Opie beweist mit dem Video «Suzanne walking forwards», dass auch Strichmännchen (beziehungsweise -weibchen) Sex-Appeal haben - und der in Schanghai lebende Qiu Anxiong illustriert, wie märchenhaft chinesische Zeichentrickfilme sein können: In seiner Tusche-Parabel mit dem Titel «The New Sutra of the Mountains and the Oceans» scheint alles auf dieser Welt verhängnisvoll miteinander verwoben, werden Elefanten zu Panzern und Priester zu Flugzeugen, die schliesslich in die Twin Towers donnern. Das Atelier van Lieshout aus Rotterdam bringt in der für es typischen Art Leben und Arbeit zur «Unit» zusammen - derweilen sich Cibic & Partners aus Italien in ihren witzigen Filmchen die Kantine der Zukunft ausmalen.
Auch ein paar Künstler aus der Schweiz sind mit von der Partie: John M. Armleder mit einer modernistischen Polstergruppe samt Spiegel, Sylvie Fleury mit einer Tapete und glamourösen Spuckehäufchen aus Silber, Caro Niederer mit Malereien, Fotos und der Videoaufzeichnung eines Frauengesprächs über Kunst und Leben. Das Duo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger schliesslich zeigt mit «Artificial Fertility» eine seiner filigranen Basteleien aus Nippes und Trouvaillen mit viel künstlichen Kristallen und rosafarbenem Schaum.
Den Machern dieser Biennale hat man vorgeworfen, sie hätten sich bei ihrer Auswahl zu stark von Sammlern beeinflussen lassen - namentlich von Uli Sigg, aus dessen Kollektion schon die venezianische Biennale von 1999 bestückt worden war. Sosehr es stimmen mag, dass Sigg mit seiner Sammlung prägt, was wir in Europa als chinesische Gegenwartskunst wahrnehmen - auf dieser sechsten Schanghai-Biennale scheint er kaum sehr präsent. Während Sigg eher Künstler sammelt, die mit ihren Arbeiten politische und soziale Themen des neuen und des alten China behandeln, setzen sich die chinesischen Künstler in dieser Ausstellung mehrheitlich mit der ästhetischen Tradition ihrer Heimat auseinander - was auch heisst, dass wir sie aus unserer westlichen Logik heraus und von unseren Erwartungen her teilweise nur schwer verstehen. Vor den elektronischen Pinselstrichen eines Shen Fan, den konzeptuellen Arbeiten von Gong Yan oder den gefilmten Stillleben von Wang Yahui (Taiwan) braucht es einige Zeit, bis wir etwas mit dem Gezeigten anfangen können.
Was aber findet man noch im «Hot Pot» von Schanghai? In unmittelbarer Nähe der Biennale sucht das seit September 2005 bestehende Shanghai Museum of Contemporary Art (MoCA) mit der Ausstellung «Entry Gate: Chinese Aesthetics of Heterogeneity» nach dem Chinesischen in der chinesischen Kunst (bis 22. Oktober 2006, www. mocashanghai.org). Da gibt es zum Beispiel die «Giant Soft Creature» von Xiang Jing zu sehen - einen gigantischen, androgynen Körper mit Kinderkopf und hohlen Augen. Lin Jiun Ting führt auf Bildschirmen chinesische Tuschezeichnungen vor, die von den Besuchern in Bewegung versetzt werden können. Guo Jin zeigt plakativ, Zhang Qikai fotorealistisch und Lu Lin traditionell gemalte Pandabären in durchaus menschlichen Nöten. Und in Du Zhenjuns grosser Installation «Wind» werden uns allerlei Bilder um die Ohren geblasen. Nach dem Besuch der Schau weiss man kaum mehr darüber, was denn nun das Chinesische am Chinesischen sei - aber es gibt eben auch Fragen, bei denen man gar keine Antworten zu erwarten braucht.
An der Ouyang Road im Südwesten des Zentrums liegt das Zhu Qizhan Art Museum, wo es bis vor wenigen Tagen unter dem Titel «This is for real» ebenfalls jüngste Kunst aus China zu sehen gab (www.zmuseum.org). Ähnlich wie im Shanghai Duolun Museum of Modern Art, das an der Duolun Road in einem überaus lebendigen Quartier im Norden der Stadt liegt, wo sich Hochhäuser und moderne Shopping-Malls neben traditionellen Strassenzügen finden. Auch diese Institution hat sich ganz und gar der Vermittlung jüngster chinesischer Kunst verschrieben. Machte sich die erste Schau vor zwei Jahren noch über den Biennale-Zirkus als grosse Wertschöpfungs-Maschine lustig, so wirkt diese «Second Shanghai Duolun Exhibition of Young Artists» schon von ihrem Ansatz her etwas orientierungslos (bis 20. Oktober 2006, www.duolunart.com). Und manches Exponat macht ein wenig den Eindruck, als sei es im Rahmen einer Übung an der Kunstakademie entstanden.
Das gilt naturgemäss bis zu einem gewissen Grad auch für einige der Arbeiten, die gegenwärtig im Shanghai Zendai Museum of Modern Art zu sehen sind - einer Institution, die inmitten einer grossen Shoppingzone in Schanghais modernstem Viertel Pudong liegt. Hier werden derzeit die Arbeiten der Preisträger des diesjährigen Chinese Contemporary Art Award (CCAA) gezeigt (bis 10. Oktober 2006, www.zendaiart.com). Dieser Preis, der nun bereits zum zwölften Mal vergeben wird, wurde ursprünglich von Uli Sigg ins Leben gerufen und gilt als wichtigster chinesischer Kunstpreis. Es überrascht kaum, dass die Arbeiten in dieser Schau jener chinesischen Kunst näherstehen, die Sigg mit seiner Sammlung vertritt. Trotzdem lassen sich Entdeckungen machen: Die Videoinstallation «Conspiracy» von Zhou Xuaohu etwa schaut man sich auch nach einem langen Kunst-Tag immer noch gerne an. Mit gekonntem Strich projiziert er allerlei persönliche Gedanken und Kommentare zur politischen Situation des Landes auf einen nackten Frauenkörper.
Als alternative Ergänzung zur Biennale ist «Satellite» konzipiert. Diese Schau findet auf einem faszinierenden Gelände etwas ausserhalb des Zentrums statt, wo in einem üppigen Garten kleine Industriegebäude verschiedenster Bauart aufeinandertreffen (bis Mitte Oktober 2006, www.satellitesh.com). Nebst Einheimischen haben sich vor allem Künstler aus Australien und Neuseeland für das Projekt interessiert. Die Qualität ist da schon sehr unterschiedlich, doch haben der Ort und der kuratorische Ansatz einiges Potenzial.
Zu einer lebendigen Kunstszene gehören natürlich vor allem auch Galerien, die sich um Zeitgenössisches kümmern. In Schanghai finden sich die meisten an ein und demselben Ort - auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik an der Moganshan Road. Den prominentesten Platz nimmt hier die von dem Schweizer Sinologen und Kunsthistoriker Lorenz Helbling geführte Galerie «ShangArt» ein (www. shangartgallery.com). Sie vertritt so manchen Künstler, der im Westen längst zum Kanon der Contemporary Chinese Art gehört: den Kamel-Künstler Zhou Tiehai etwa, den Panda-Freund Zhao Bandi oder den Filmemacher Yang Fudong. Unter den übrigen Galerien auf dem Gelände findet sich sehr Unterschiedliches. Da gibt es einerseits ehrgeizige Projekte wie zum Beispiel die Eastlink Gallery (www.eastlinkgallery.cn) oder junge Initiativen wie die Vanguard Gallery von Lise Li (www.vanguardgallery.com) zu entdecken. Andererseits tritt man an der Moganshan Road auch in manche Ausstellung ein, die unsere ästhetische Toleranz auf eine harte Probe stellt. Und manchmal fühlt man sich gar fast wie in einem der Touristengeschäfte in der alten «Chinesenstadt» - wo Schanghai so aussieht, als sei es nach Bildern aus Tim und Struppi («Der blaue Lotus») wieder instand gesetzt.
Man kann Schanghais Kunstszene wohl mit einigem Recht als einen «Hot Pot» bezeichnen - brauen sich doch da die verschiedensten Ingredienzien unmittelbar vor unserem Auge zu einer neuen Kunstszene zusammen, von der wir sicher in nächster Zukunft noch einiges hören, sehen und vielleicht sogar riechen werden. Im Unterschied zur chinesischen Küche allerdings sind die einzelnen Zutaten noch nicht optimal aufeinander abgestimmt. Die Ziele von Institutionen wie der Biennale, dem MoCA, dem Zhu Qizhan Art Museum, dem Duolun MoMA und dem Zendai MoMA sind noch zu ähnlich. Der «Satellite»-Schau als selbständiger Ergänzung zur Biennale fehlt es noch an Profil - und die Galerien-Szene an der Moganshan Road müsste vielleicht etwas genauer darauf achten, wen sie alles in ihrer Mitte aufzunehmen bereit ist.
Doch die Dinge ändern sich rasend schnell in dieser Stadt, die ihr Antlitz und ihren Charakter mit jedem Tag neu zu definieren scheint. «Wer hier isst, der wandelt sich und vergisst, wo er ist» könnte man als Sprichwort über die ganze Stadt setzen - Schweissausbrüche sind da auch ohne Glückspfeffer garantiert. Und wenn die Stadtregierung für die Olympischen Spiele von 2008 mit technischen Mitteln sämtliche Wolken vom Himmel über Schanghai vertreiben will, dann wird wohl auch die Kunstszene vom schönen Wetter profitieren. Den Grund des Schanghaier Kunsttopfes haben unsere Sondierstäbchen jedenfalls noch lange nicht erreicht.
erschienen in NZZ, Montag, 02.10.2006 / 25