Samuel Herzog

Fischerhafen mit Ozeanriese


Hohe Ambitionen - grosse Kontraste: Gegenwartskunst in Singapur

Singapur gilt als Wirtschaftsmetropole und als Shopping-Paradies - zum Selbstverständnis als «Global City» gehört seit einigen Jahren aber auch die Kunst. Eine Grossveranstaltung wie die Erste Singapur-Biennale zeigt das Potenzial der Stadt auf - und macht auch deutlich, was ihr fehlt.

   Mit einer Durchschnittstemperatur von 17 bis 18 Grad gehört Singapur wohl zu den frischesten Städten des tropischen Gürtels. Von Flughafen über Taxi oder Bus bis zu Hotel, Restaurant, Kirche, Moschee oder Shopping-Mall - die Kühlkette ist beinahe lückenlos. Wer sich zwischendurch aufwärmen will, muss schon eine der Hawker-Kneipen in Chinatown aufsuchen oder einen Ausflug nach Pulau Ubin unternehmen, wo sich der Stadtstaat den Luxus eines Fleckens unberührter Natur erlaubt. Lee Kuan Yew, Singapurs hartnäckiger «Minister Mentor», hat die Klimaanlage in einer Rede als eine der grössten Erfindungen der Menschheit gepriesen - weil sie den Zeitgenossen frisch und folglich fleissig halte. Ja, die «Clim» oder «Clime», wie man die röchelnden Schränke liebevoll nennt, kann man demnach als einen wesentlichen Grund für Singapurs wirtschaftlichen Erfolg ansehen - und damit auch als prägend für eine ganze Kultur.

Kunst als Teil der «Global City»

   Was für eine Rolle aber spielt die Kunst, vor allem die zeitgenössische Kunst in einer Gesellschaft, deren Landesväter Rousseaus Klimatheorie mit solcher Begeisterung ins technologische Zeitalter übersetzen? Folgt man den offiziellen Verlautbarungen, dann soll sie eine wachsende Rolle spielen. Heute sei man sich bewusst, dass die Kunst ein wesentlicher Teil des Konzepts einer «Global City» sein müsse, meint jedenfalls Lee Suan Hiang, der den National Arts Council als CEO dirigiert. - Schaut man sich indes den Schauplatz Singapur an, sind die Eindrücke einigermassen heterogen. Eine gewisse Offenheit und einiges Interesse für zeitgenössische Kunst sind zwar überall spürbar - doch weiss man offenbar noch nicht so recht, wie man es angehen soll.

   Da gibt es zunächst das SAM, das Singapore Art Museum (www.singart.com). Es ist in einem historischen Gebäude an der Bras Basah Road eingerichtet, das einst als erste katholische Schule der Stadt diente. Das SAM sammelt Singapurs Kunst der Moderne, das heisst Werke aus dem 20. Jahrhundert - schwergewichtig aber solche, die seit der Unabhängigkeit im Jahre 1965 entstanden sind. Aus irgendwelchen Gründen allerdings reicht diese Sammlung nicht über die achtziger oder frühen neunziger Jahre hinaus. Die Kollektion prägt auch die Ausstellungstätigkeit des Hauses, das derzeit etwa Singapurs Kunst der siebziger Jahre präsentiert oder Monographien zu Pionieren einer älteren Generation wie Gao Xingjian und Chen Wen Hsi.

   Ein paar Regenbäume weiter wird am 2. Dezember das National Museum of Singapore (www.nationalmuseum.sg) wiedereröffnet. Die Kolonialarchitektur aus dem 19. Jahrhundert wurde aufwendig renoviert und rückseitig um einen transparenten Neubau erweitert, zu dem nebst verschiedenen Galerien auch eine 16 Meter hohe, gläserne Rotunde gehört - eine Art Zauberlaterne, die nachts bewegte Bilder über der Stadt erstrahlen lässt. Primäre Aufgabe des Nationalmuseums ist es, die Geschichte von Stadt und Region zur Darstellung zu bringen - Lee Chor Lin, die als erste weibliche Museumsdirektorin Singapurs die Geschicke des neuen Hauses bestimmt, will jedoch explizit auch mit zeitgenössischen Künstlern zusammenarbeiten. Wie diese Kollaboration genau aussehen wird, scheint derzeit noch niemand zu wissen. Es heisst jedoch, dass in den neuen Galerien vorrangig zeitgenössische Kunst gezeigt werden soll.

   Räumlich bescheidener, als Vermittlungsort für zeitgenössische Kunst aber besonders wichtig ist das Institute of Contemporary Art (ICA, www.lasallesia.edu.sg), das als eine Institution des Lasalle College of the Arts betrieben wird. Das ICA ist derzeit noch auf dem Campus der Kunstschule am Rande der Stadt untergebracht (Earl Lu Gallery) - wird jedoch voraussichtlich ab kommendem Juni neue Lokalitäten im Zentrum von Singapur beziehen. Eugene Tan, der das ICA seit gut einem Jahr leitet, versucht der Institution eine internationale Ausrichtung zu geben. Nebst Ausstellungen mit zeitgenössischer Kunst aus dem asiatischen Raum gab es in jüngster Zeit etwa eine Schau zur Kunstszene in Grossbritannien oder eine monographische Ausstellung von Antony Gormley zu sehen.

   Nebst diesen grösseren Häusern gibt es eine Reihe von kleineren Institutionen, die sich der Vermittlung von zeitgenössischer Kunst verschrieben haben - einige liegen im Stadtteil Little India, wo die Mieten verhältnismässig günstig sind und es ältere Gebäude gibt, in denen sich die Kunst als Zwischennutzerin einrichten kann. Der kleine, von einer Gruppe von Künstlern betriebene Raum P10 etwa liegt im Parterre eines Hauses an der Perumal Road, das im kommenden Jahr saniert oder abgerissen werden wird. Die Your Mother Gallery ist in einer privaten Wohnung an der Hindoo Road installiert und wird ebenfalls von einem Künstlerpaar betrieben. Beide Räume kommen ohne staatliche Subventionen aus. Mit einem von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellten Budget hingegen operieren der Ausstellungsraum Plastique Kinetic Worms an der Kerbau Road sowie die Substation Gallery neben der Armenischen Kirche.

Multikulturelle Veranstaltung

   In diese doch eher bescheidene, mehrheitlich kleinteilig operierende und grösserenteils lokal orientierte Kunstlandschaft nun platzte am 4. September eine Art Bombe in Form der SB2006, der Ersten Singapur-Biennale für zeitgenössische Kunst. Biennalen-Erstlinge sind oft eher improvisierte, meist stark aus lokalen Netzwerken heraus entwickelte Veranstaltungen - die SB2006 aber ist davon das pure Gegenteil. Sie hält dem Vergleich mit längst etablierten Biennalen in jeder Beziehung stand. Nehmen wir zum Beispiel die Orte der SB2006: Wie es sich für eine solche Veranstaltung heute gehört, findet sie nur teilweise an Kunstorten statt. Fumio Nanjo und seine drei Co-Kuratoren (Roger McDonald, Sharmini Pereira und Eugene Tan) haben «Locations» ausgesucht, die uns die Stadt und ihre Geschichte in ihrer ganzen Multikulturalität erfahren lassen: eine katholische, eine protestantische und eine armenische Kirche, eine Moschee, eine Synagoge, ein taoistischer und ein hinduistischer Tempel, ein Wohnblock, ein ehemaliges Gerichtsgebäude und ein ehemaliges Militärcamp, das wie eine tropische Version des Arsenale in Venedig wirkt. Die Künstler stammen zur einen Hälfte aus Asien, zur anderen aus Europa, Afrika, Nord-, Zentral- und Südamerika - ja sogar die Karibik und Ozeanien sind vertreten. Mehr als die Hälfte aller Werke wurden von den Künstlern vor Ort für die SB2006 realisiert - überwiegend mit gutem Resultat. Zur Ausstellung erschien ein handlicher Führer mit erklärenden Texten zu sämtlichen Werken, und natürlich fehlt auch ein breit angelegtes Vermittlungsprogramm für Schulen und einzelne Gruppen der lokalen Bevölkerung nicht. Kurz: Die SB2006 ist geradezu das Musterbeispiel einer Biennale.

   Umso mehr wirkt sie wie ein Ozeanriese in einem Fischerhafen - und zeigt dadurch indirekt auf, woran es in Singapur fehlt. Zwar unterstützt die Stadt ihre Künstler, indem sie ihnen Ateliers zu günstigen Konditionen zur Verfügung stellt (Art Housing Project) und Aufenthalte oder Auftritte im Ausland finanziert - für den Aufbau von international operierenden Institutionen aber tut sie (noch) zu wenig. Ausserdem gibt es niemanden in Singapur, der zeitgenössische Kunst sammelt - weder private noch öffentliche Institutionen (die wichtigste Sammlung zeitgenössischer Kunst aus Südostasien befindet sich in Japan, im Fukuoka Asian Art Museum). Doch das könnte sich in den nächsten Jahren ändern. Bis 2012 nämlich soll die City Hall, das ehemalige Gerichtsgebäude der Stadt, in eine National Gallery umgebaut werden. Diese soll grosse, international ausgerichtete Ausstellungen aufnehmen können - und über eine Sammlung verfügen, welche die Kollektion des SAM in die Gegenwart fortsetzt.

   Es gibt jedoch offensichtlich auch noch ganz andere Pläne. Etwa jene für ein Spielkasino mit dazugehöriger Shopping-Mall und Schauräumen für Kunst aus grossen Museen der Welt - bereits sollen Vertreter der Guggenheim Foundation und des Centre Pompidou für Vorverhandlungen eingeflogen worden sein. Auch lebende Wale soll man in diesem neuen Komplex bestaunen können. Wenn es dazu kommt, könnte es gut sein, dass die Durchschnittstemperatur der Stadt dann nochmals um ein paar Grade sinkt.

   Einen kompletten Bild-Rundgang über die Singapore Biennial 2006 findet man auf der deutschsprachigen Site www.universes-in-universe.de.



erschienen in NZZ, Dienstag, 21.11.2006 / 44