Ein japanischer Haiku-Meister wurde einst vor die knifflige Aufgabe gestellt, alle acht Sehenswürdigkeiten einer Seelandschaft in einem einzigen Gedicht zu beschreiben: Er löste das Problem dadurch, dass er eine der Attraktionen beschrieb, alle anderen aber im morgendlichen Nebel über dem See verschwinden liess.
Die Ausstellung «In den Alpen», die das Zürcher Kunsthaus derzeit zeigt, ist davon das pure Gegenteil: Tobia Bezzola und Catherine Hug, die Kuratoren der Schau, lassen nicht nur die grossen Berge, sondern auch kleinere Hügel und sogar Kirchtürme, Fahnenmasten und die Hörner der Milchkühe aus dem Nebel ragen. Manches Stück wird hier gezeigt, weil es von den Alpen erzählt. Anderes stammt aus den Alpen und hat deshalb in die Ausstellung Eingang gefunden - Drittes behandelt alpine Themen, Viertes lässt sich assoziativ mit dem Alpenraum verbinden, Fünftes nutzt die Alpen als Bühne oder Projektionsraum. Da ist naturgemäss einiges zusammengekommen - mehr als vierhundert Exponate von annähernd ebenso vielen Künstlerinnen und Künstlern aus allen Epochen der Neuzeit verwandeln den Bührle-Saal in eine grosse Alpenstube. Da finden sich mächtige Ölbilder neben kleinen Scherenschnitten, Videofilme neben Bauernmalerei, Kartographisches neben Basteleien, wie sie wohl nur das einsame Herz unserer tapferen Sennen ersinnen kann.
Die Schau ist lose in zehn Kapitel gegliedert, die das grosse Thema über einzelne Schlagworte erschliessen. Den wuchtigen Auftakt macht - warum auch nicht - das Thema «Wüste». Da gibt es zum Beispiel den «Lac de l'Eychauda» zu sehen, den Abbé Laurent Guétal 1886 malte: eine karge Seelandschaft weit oben in den Bergen, wo es auch im Hochsommer noch Schneeflecken gibt, in denen Wanderer ihre Bierflaschen kühlen können. Das Thema «Katastrophe» wird durch ein Gemälde von Charles-Louis Guignon eingeführt, der die grosse «Überschwemmung im Wallis» von 1834 monumental in Szene gesetzt hat: Aus einem apokalyptischen Nebelmeer stürzen Fluten durchs Bild, reissen Felsbrocken, Bäume und Dächer mit - derweilen sich Mensch und Vieh, ganz klein, am rechten Bildrand um ein Kruzifix scharen.
Vorbei am obligaten «Panorama» und leicht erhitzt durch einen Schuss «Alpenglühen» treten wir nun vor den «Einwohnern» an. Den Beginn markieren hier die ebenso einfachen wie anrührenden Porträts von Kindern aus den Bündner Bergen, die Emil Brunner während des Zweiten Weltkriegs aufnahm. Der Fotograf Balthasar Burkhard ist mit einem Frühwerk von 1963 vertreten, das Kühe und Sennen «Auf der Alp» in ein absurdes Theater der Gesten und Grimassen verwickelt. Dramatisch oder romantisch geht es in den diversen Heimatfilmen zu, die hier in «Sekundenausschnitten» gezeigt werden, süsslich-beschaulich auf dem Gemälde «Stubete auf der Alp Sol», das Gottlieb Emil Rittmeyer 1865 malte - es zeigt das welterste Volksfest in den Alpen, bei dem die magere Krume völlig unversehrt blieb. Bei den «Touristen» schwingt sich Peter Doigs «Telemarker» (1995) geschickt durch den Tiefschnee, derweilen sich der Skifahrer bei Albert Steiner mit seinem schweren Gerät schon 1938 auf einer Blumenwiese wiederfand.
Das Thema «Feldherren» ist so weit gegriffen, dass sich da auch ein heroisches Werbeplakat der «Swissair» finden kann - aus Zeiten, als der Begriff Grounding noch nicht zu unserem täglichen Vokabular gehörte. Allerdings gibt es ja auch die «Gotthardpost» nicht mehr, die uns beim Thema «Ingenieure» aus dem berühmten Bild von Rudolf Koller entgegendonnert. Doch das Verschwinden der Dinge hat die «Visionäre» nie gekümmert: Sie haben, wie Adolf Ogi in einem Video von Christoph Büchel, nur die Zukunft im Blick - oder zumindest das Licht am Ende des Tunnels.
Zum Abschluss schliesslich treten dann auch noch die «Pioniere» auf. In heroischem Abendlicht leuchtet uns auf einem Gemälde von Alexandre Calame über dem Rosenlauital das Wetterhorn entgegen (1856). Der romantische Blick des Genfers ist bestimmt vom festen Glauben an die unverletzliche Wildheit einer Landschaft, die in Wirklichkeit doch auch damals schon überaus kultiviert war. Als Pionier schleicht er sich mit klopfendem Abenteurerherzen durch den Alpendschungel - ohne die Reifenspuren zu sehen, die der vor ihm fahrende Campingbus hinterlassen hat. Calames etwas selektive Wahrnehmung helvetischer Bergparadiese prägt bis heute mit, was wir uns von einem Besuch in den Alpen erwarten: Tief saugen wir dieses Licht durch unsere Augennüstern ein - ganz wie die frische, von Kuhdung parfümierte Luft.
Mit «In den Alpen» ist den Kuratoren eine kurzweilige Ausstellung gelungen, in der es viel zu sehen und manch Amüsantes zu entdecken gibt. Die Vermischung von bildender Kunst mit Filmkunst, Volkskunst, Kartographischem, Souvenirs, Werbung usw. sowie die locker assoziative Weise, in der die Exponate da zusammengekommen sind, erinnern manchmal fast ein wenig an Ausstellungen von Harald Szeemann (wenn auch in leicht gezähmter, in quasi rasierter Form).
Etwas irritierend ist hingegen der Katalog, der wie ein Bergführer des SAC auftreten will. Die Idee, sämtliche Werke als altertümlich eingefärbte Schwarzweissbilder wiederzugeben, mag zwar ein genialer grafischer Einfall sein - dies setzt jedoch den Informationswert einer solchen Publikation ganz erheblich herab und verleiht auch jüngsten Werken einen pseudo-altertümlichen Touch.
Zehn Jahre nachdem das Kunsthaus «Freie Sicht aufs Mittelmeer» forderte, setzt es nun den einst so lästigen Bergen selbst ein Monument. Die Schau ist jedoch wahrlich nicht die erste Ausstellung, die sich dem Thema Alpen widmet: Erinnert sei hier bloss an die «Schwerkraft der Berge» (Aarau), die «Ansichten vom Berg» (München) oder die vom SAC mitgetragene Ausstellung «Hoch hinaus» im Kunstmuseum Thun. Direktor Christoph Becker formulierte deshalb in seiner Rede vor der Presse den Anspruch, dem Kunsthaus sei hier die «ultimative Alpenausstellung» gelungen. Nur, was könnte das sein? Die schönste, die umfassendste, die vielseitigste, die tiefgreifendste oder bloss die teuerste Schau? Das bleibt wohl ein Geheimnis - wie ja auch so manches in den Nebelzonen unserer Berge.