Interview von Samuel Herzog, 1999
Ausstellen heute VIII: Hans-Ulrich Obrist
freier Ausstellungsmacher
«Ich verstehe mich als Brücke zwischen Kunst und Welt»
Hans-Ulrich Obrist (1968 in Zürich geboren) pendelt heute zwischen
Wien und Paris hin und her. Er ist für die Informationsfülle seiner
Projekte ebenso bekannt wie für die Wahl ungewöhnlicher Ausstellungsorte:
in einer Küche, auf dem Gipfel des Säntis oder in der Stadtentwässerung.
Seit 1992 betreut er im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris
die Ausstellungsreihe «Migrateur» - Interventionen in der Cafeteria
oder im Telephonsystem des Museums. Einige Projekte sind an gar keinen Ort
gebunden: «do it» etwa mit Gebrauchsanweisungen von Künstlern,
die überall und von allen umgesetzt werden können.
BaZ: Im Juni starten sie in Antwerpen zusammen mit Barbara Vanderlinden
das Projekt «Laboratorium 99». Ein Name und ein Ort mehr auf
der langen Liste von Projekten, an denen Sie als Mitkurator beteiligt sind.
Würde es Sie nicht reizen, anstatt da und dort mitzuspielen, die Verantwortung
für ein Museum oder eine Kunsthalle zu übernehmen?
Hans-Ulrich Obrist: Meinen Ausstellungsprojekten gehen immer langwierige,
komplexe Recherchen voraus. Diesen Recherchen widme ich die meiste Zeit,
daneben bin ich auf Vortragsreisen unterwegs, und gebe Bücher heraus.
Dies alles einer festen Anstellung vorläufig vorzuziehen, ist eine
sehr persönliche Entscheidung. Flexibilität ist bei meiner Arbeitsweise
sehr wichtig, deshalb habe ich niemals die Direktorenstelle einer existierenden
Institution vor Augen. Es interessiert mich nicht, Territorien zu okkupieren,
lieber erfinde ich neue Wege der Kunstvermittlung. In Zukunft wird es vermehrt
darum gehen, neue, transdisziplinäre Strukturen zu definieren und zu
erfinden. Es geht dabei weniger um Ausstellungen, denn darum, Produktionsstrukturen
zu schaffen. Ich arbeite in den letzten Jahren vermehrt nicht nur zwischen
den Geographien (in den Worten von Simryn Gill geht es weniger darum einer
Geographie anzugehören, als zwischen den Geographien zu leben), sondern
auch zwischen den Disziplinen, was im Rahmen existierender Institutionen
sehr schwierig ist. Es geht darum, Strukturen zu schaffen, wo Visualkultur
als breiteres und offeneres Feld gezeigt wird und nicht nur als eine Angelegenheit
der Gegenwartskunst. Was das Kokuratieren angeht, denke ich, dass die Zusammenarbeit
mit anderen Kuratoren und Kuratorinnen in den 90er Jahren sehr wichtig ist.
Dabei entsteht eine weniger monolithische Kuratorenposition. Vor zehn oder
zwanzig Jahren war es für einen Einzelnen noch möglich, einen
Überblick über das aktuelle Kunstschaffen zu haben, denn alles
drehte sich um ein paar wenige Zentren. Heute kann eine Person allein keinen
Kunstbegriff mehr haben, der alles abdeckt, denn die wichtigen Künstler
der 90er Jahre kommen nicht nur aus Berlin, New York oder London, sondern
auch aus unzähligen Zentren überall auf der Welt . Die Anzahl
von Zentren hat sich erhöht, auch sind die Grenzen des Kunstfeldes
porös geworden, reine Gegenwartskunstausstellungen sind deshalb viel
weniger notwendig als grenzüberschreitende Projekte, neue Formen kritischer
Transdisziplinaritaet, die veranlassen, das eigene Feld, in einer grösseren
Perspektive zu sehen.
Was für eine Bedeutung haben denn Ausstellungen heute noch?
Ausstellungen sind Situationen, wo Werke entstehen, wo Werke sich verändern,
wo Werke öffentlich gemacht werden - ähnlich einem öffentlichen
Labor. Gleichzeitig wird die Ausstellung immer mehr zu einem Netzwerk. Ein
konkretes Beispiel. In der Ausstellung «Cities on the Move», einer
Ausstellung zum Thema Asiatische Stadt der 90er Jahre, haben die Künstler
Rirkrit Tiravanija und Navin Rawanchaikul ein «Tuk-Tuk»-Projekt
realisiert («Tuk-Tuks» heissen die dreirädrigen Motorrad-Taxis
in Bangkok). Das «Tuk-Tuk» steht einerseits als Readymade im Ausstellungsraum
und ist mit kleinen Videomonitoren ausgestattet, auf denen die Künstler
ein Roadmovie skizzieren, das die Geschichte einer «Tuk-Tuk»-Fahrt
von Chiang Mai nach Bangkok und von dort zu den verschiedenen Ausstellungsorten
erzählen soll. Parallel dazu existiert ein Grossbild, das die Künstler
in Bangkok malen lassen, ein Billboard, das auch den Roadmovie ankündigt.
Das Grossbild wurde als Billboard gedruckt und wird in der Stadt plakatiert,
ein zweites «Tuk-Tuk» fährt die Besucher vom Museum zu einem
nahe gelegenen Kino und wieder zurück. Im Kino wird das Roadmovie gezeigt
etc. etc. Das Museum ist dabei ein Knoten in einer Schnittstelle, die Ausstellung
wird zum dynamischen Netzwerk, zur Überlagerung, zur Frequenz von
Ereignissen. Das entsteht aus der Art und Weise, wie viele Künstler
in den 90er Jahren arbeiten. Dabei geht es nicht wie in den 60er Jahren
darum, die Ausstellungsräume zu verlassen, sondern darum, in verschiedenen
Kontexten zu arbeiten und die Aktivitäten zu verbinden. Das «Tuk-Tuk»-Projekt
ist eines von 100 Projekten, die im Rahmen von «Cities on the Move»
stattfinden.
Und was für eine Aufgabe hat der Kurator in diesem Kraftwerk?
Der Kurator sollte Katalysator oder - im Sinne von Ballard - «junction
maker» sein, er kann Brücken herstellen wo sie sich nicht von
selbst ergeben und zwischen den Feldern und Disziplinen vermitteln. Im Sinne
von Felix Feneon ist der Kurator eine Brücke zwischen der Welt und
der Kunst. Und ganz wichtig ist, dass der Kurator den Künstlern nicht
im Weg steht. Ein weitere Punkt ist das Durchbrechen der Hierarchien von
Künstler und Werk und Publikum.
Welche Verantwortung hat der Kurator gegenüber dem Publikum?
Lieber als von einem Publikum zu reden, ist es mir, von den Betrachterinnen
und Betrachtern zu reden. Eine Verantwortung liegt darin, die Erwartungen
der Betrachterinnen und Betrachter zu verändern, Gleichgültigkeit
zu durchbrechen, einen dynamischen Stillstand zu schaffen, die Möglichkeit,
Grenzen zu überschreiten.
Und wie lässt sich diese Dynamik nach Aussen transportieren?
Das «Tuk-Tuk» ist ein Beispiel. Es geht vom Museum weg und führt
wieder ins Museum zurück. Hin und her. Dinge, die ausserhalb der Ausstellung
stattfinden, werden zur Ausstellung in Beziehung gesetzt und umgekehrt.
Wichtig bei Ausstellungen ist auch ein flexibler Zeitbegriff, denn Routine
ist der Feind der Ausstellung. Vor allem soll der Besucher keinen kurz vor
Eröffnung der Ausstellung eingefrorenen Prozess vorfinden. Die Schau
soll sich auch während der Laufzeit verändern dürfen. Überhaupt
ist es eine langweilige Konvention, dass alle Ausstellungen immer ein oder
zwei Monate dauern müssen - zehn Sekunden können wichtiger sein
als Monate, Performances von Gobsquad können Monate dauern... Die meisten
Ausstellungen schlafen - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Warum sind
sie zum Beispiel nachts immer geschlossen?
Wie setzt sich das Publikum zusammen, das Sie im Sinn haben?
Die Besucher kommen ja aus ganz verschiedenen Gründen in die Ausstellungen.
Ich orientiere mich an einem sehr heterogenen Publikumsbegriff, es geht
auch um die Durchmischung verschiedener Generationen. Eine meiner ersten
Ausstellungen, die ich Anfang der 90er Jahre organisiert habe, fand in der
Klosterbibliothek in St. Gallen statt, eine Buchausstellungen von Christian
Boltanski. Dabei kam es zu einer Publikumsverschränkung: Besucher,
die wegen der alten Handschriften kamen, sahen durch die Hintertüre
eine Ausstellung von Gegenwartskunst - Besucher, die wegen Boltanski
kamen, sahen durch die Hintertüre mittelalterliche Handschriften. Diese
Publikumsverschränkung hat mich immer interessiert. Ein weiteres Beispiel:
Ich habe mit Laurence Bosse die Ausstellung «Nuit Blanche» für
das Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris kuratiert, eine Übersichtsschau
über die Szenen der 90er Jahre in Nordeuropa. Gleichzeitig fand Visions
du Nord statt im Museum: Die Besucher, die wegen Munch, Strindberg, Hill
oder anderen Meistern ins Museum kamen, sahen durch die Hintertüre
Bjaerne Melgaard, Carl Michael von Hausswolff, Olafur Eliasson oder Mika
Vainio, und umgekehrt.
Wenn alles so offen ist, besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit?
Wenn der Seilakt gelingt, kann eine offenere Ausstellungsform sowohl erweitern
als auch vertiefen.
Aktuelle Informationen zu den Ausstellungsprojekten von Hans Ulrich Obrist
und Texte des Ausstellungsmachers finden sich unter: www.artnode.se/artorbit
In der Serie «Ausstellen heute» sind bisher folgende Interviews
erschienen: Annette Schindler, Swiss Institute New York (22.8.97); Bernhard
Fibicher, Kunsthalle Bern (28.8.97); Christoph Vögele, Kunstmuseum
Solothurn (5.9.97); Ulrich Loock, Kunstmuseum Luzern (3.4.98); Roman Kurzmeyer,
freier Ausstellungsmacher (15.4.98). Bice Curiger, Kunsthaus Zürich
(6.6.98). Jean-Paul Felley & Olivier Kaeser, attitudes (10.4.99).
URVERSION - von HUO abgelehnt
Ausstellen heute VII: Hans-Ulrich Obrist, freier Ausstellungsmacher
«Ich verstehe mich als Passerelle zwischen Kunst und Welt»
Hans-Ulrich Obrist (1968 in Zürich geboren) pendelt heute zwischen
Wien und Paris hin und her. Er ist für die Informationsfülle seiner
Projekte ebenso bekannt wie für die Wahl ungewöhnlicher Ausstellungsorte,
in einer Küche, auf dem Gipfel des Säntis oder in der Stadtentwässerung.
Seit 1992 betreut er im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris
die Ausstellungsreihe «Migrateur» - Interventionen in der Cafeteria
oder im Telephonsystem des Museums. Einige Projekte sind an gar keinen Ort
gebunden: «do it» etwa mit Gebrauchsanweisungen von Künstlern,
die überall und von allen umgesetzt werden können.
BaZ: Dieser Tage öffnet die «berlin biennale» ihre Tore.
Eine Name und ein Ort mehr auf der langen Liste von Projekten, an denen
Sie als Kokurator beteiligt sind. Würde es Sie nicht reizen, anstatt
da und dort mitzuspielen, die Verantwortung für ein Museum oder eine
Kunsthalle zu übernehmen?
Hans-Ulrich Obrist: Wenn ich ein grosses Haus hätte, das ich regelmässig
bespiele, dann würden ich und das Publikum sich nach einem Jahr wahrscheinlich
langweilen. Territorien zu okkupieren, das interessiert mich nicht. Ich
erfinde lieber neue Wege der Kunstvermittlung. Auch glaube ich nicht an
die monolithische Kuratorenfigur: In den 90er Jahren geht es nur mit Teams,
«promisquity of collaborations» - permanent anderen Zusammensetzungen.
Tatsächlich werden aber heute immer noch die meisten Räume für
zeitgenössische Kunst von einem einzigen Kurator betreut.
Das ist ja gerade das obsolete an vielen Kunsträumen, dass da einer
jahrelang allein das Sagen hat. Vor zehn oder zwanzig Jahren war es für
einen einzelnen noch möglich, einen Überblick über das aktuelle
Kunstschaffen zu haben, denn alles drehte sich um ein paar wenige Zentren.
Heute kann eine Person allein keinen Kunstbegriff mehr haben, der alles
abdeckt, denn die wichtigen Künstler der 90er Jahre kommen nicht nur
aus Berlin, New York oder London, sondern auch aus Xiamen oder Glasgow,
Guangzhou oder Johannesburg. Die einzige Möglichkeit, am Ball zu bleiben,
ist die Zusammenarbeit mit anderen Ausstellungsmachern und Künstlern.
Auch die neuen Möglichkeiten der Telekommunikation sind eine gute Hilfe,
per E-Mail führe ich mit anderen jungen Kuratoren eine permanente Diskussion.
Was für eine Bedeutung haben denn Ausstellungen heute?
Ausstellungen sind Laboratorien, in denen eine Hybridisierung möglich
ist, sie können Begegnungsstätten sein zwischen den Disziplinen,
zwischen Film, Literatur, Musik und Kunst. Ich glaube ohnehin, dass die
Trennung in diverse Spartenhäuser heute kaum mehr sinnvoll ist -
Hybridizität ist der Kunst der 90er Jahre ohnehin implizit.
Da bekommen auch Kunstraum oder Museum eine neue Funktion.
Wenn die Kunsträume Bedeutung haben wollen, dann müssen ihre Grenzen
porös sein, sie müssen sich als Schnittstellen in einem Netzwerk
verschiedener Aktivitäten etablieren. Ich sehe das Museum als «relais»,
als dynamisches Zentrum oder noch besser als Kraftwerk. Doch die meisten
Museen schlafen - und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Warum sind
sie zum Beispiel nachts immer geschlossen?
Und was für eine Aufgabe hat der Kurator in diesem Kraftwerk?
Die Ausstellung ist ein Medium der Verdichtung aus verschiedenen Tendenzen.
Der Kurator sollte Katalysator oder besser «junction maker» sein,
er sollte Brücken herstellen wo sie sich nicht von selbst ergeben und
zwischen den Disziplinen vermitteln, zwischen Künstlern und Wissenschaftlern
etwa. Er sollte auch dafür sorgen, dass die Künstler zusammenarbeiten
- aber in einem offenen Klima. Und der Kurator muss wissen, wann er
verschwinden muss, um den Künstlern nicht im Weg zu stehen.
Welche Verantwortung hat der Kurator gegenüber dem Publikum?
Vor allem muss er dafür sorgen, dass das Laboratorium nicht leer steht
- grosse, leere Räume deprimieren nicht nur mich. In Abwandlung
einer Idee von Gilles Deuleuze verstehe ich die Ausstellung als ein offenes
Feld - jeder kann das anschauen wie er will. Meine Aufgabe ist es,
mit den Erwartungen nicht nur des Publikums sondern auch der Künstler
zu brechen und die Kunst der Gegenwart in andere Kontexte zu katapultieren
oder umgekehrt andere Kontexte in die Kunst hinein zu holen.
Und wie lässt sich diese Dynamik nach Aussen transportieren?
Vor allem soll der Besucher keinen kurz vor Eröffnung der Ausstellung
eingefrorenen Prozess vorfinden. Die Schau soll sich auch während der
Laufzeit verändern dürfen. Überhaupt ist es eine langweilige
Konvention, dass alle Ausstellungen immer drei Monate dauern müssen.
Eine zweitägige «Party» kann phantastisch sein, ja zehn Sekunden
können wichtiger sein als Monate.
Wie setzt sich das Publikum zusammen, das Sie im Sinn haben?
Die Besucher kommen ja aus ganz verschiedenen Gründen ins Museum. Ich
orientiere mich an einem sehr heterogenen Publikum. Auch da ist Hybridizität
mein Prinzip, es geht um die Durchmischung verschiedener Publikumsbegriffe,
verschiedener Generationen. Da tauchen auch Widersprüche auf -
die muss man akzeptieren.
Wenn alles so offen ist, besteht da nicht die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit?
Es gibt immer einen präzisen Fokus, der führt zu einer Recherche
und da entwickelt man die genauen Parameter. Auch diese Recherche macht
man natürlich nicht allein, sondern mit einer ganzen Gruppe von Experten.
Überhaupt sind meine Ideen irrelevant: Es geht um Kunst und Künstler;
es geht darum, eine Plattform zu schaffen, auf der sich Kunst artikuliert.
Ziel meiner heterokliten Aktivität ist es, einen Daten High-way zu
schaffen, permanent sich weiter schreibende Texte. Ich verstehe mich -
wie Félix Fénéon den Kurator beschrieben hat -
als «Passerelle» zwischen Kunst und Welt.
Erschienen in der Basler Zeitung am 30. Juli 1999