Oliver Kielmayer


Inhaltslosigkeit


Eine immer wieder zu hörende Einschätzung unserer Gesellschaft bedient sich des Stichwortes der Inhaltslosigkeit. Da es heute so viele Inhalte wie nie zuvor gibt, allerdings in Form einer Pluralität von Möglichkeiten, die, wenn auch unter Umständen unvereinbar, nebeneinander koexistieren, meint da der Vorwurf der Inhaltslosigkeit nicht eher den Verlust des einen, richtigen Inhalts als das Fehlen von Inhalt generell?

Inhalt gilt in der Regel als ein sich selbst begünstigender Wert, also als etwas genuin Positives; ganz im Gegenteil zur Inhaltslosigkeit, die mit mangelndem Engagement, Desinteresse an Politik sowie dem Fehlen von Idealen gleichgesetzt wird und so vor allem negative Konnotationen weckt. Eine solche Haltung finde ich insbesondere im Bereich der Kunst gefährlich, denn hier ist nicht so ohne weiteres klar, ob Inhalt überhaupt eine wünschenswerte Grösse sei. Seit sich in der abendländischen Kultur das zu formieren begann, was wir heute unter bildender Kunst verstehen, war man sich (spätestens seit dem Barock) darüber einig, dass künstlerische Qualität weniger an dem zu bemessen sei, was in einem Kunstwerk ausgesagt wird, sondern wie man diese Aussage zu einem ästhetischen Erlebnis werden lässt. In der Romantik wurde mit der Unabhängigkeit der Kunst ihr wichtigstes Kriterium die Offenheit, das Unabgeschlossene, das begrifflich nicht Fixierbare. Wenn dies aber gerade den Reiz grosser Kunst ausmacht, dann ist Inhalt, verstanden als begrifflich fixierbare und kommunizierbare Aussage, wenigstens in Hinsicht auf einen ästhetischen Wertmassstab, zunächst einmal störend.

Angesichts dieser Tatsache muss doch überraschen, dass die Kunst bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sehr weitgehend durch Inhalte geprägt war, zumal man bereits gut zweihundert Jahre zuvor festgestellt hatte, dass die Kunst frei sei und damit keinerlei spezifischem Inhalt verpflichtet.

Die Künstler der Moderne wurden von dieser – im übrigen theoretischen – Feststellung wohl eher irritiert als wirklich entfesselt. Die fehlende Vorgabe von Aussen wurde mit einer Schau nach Innen kompensiert, und ihre Kunst zeichnete sich im Wesentlichen dadurch aus, dass sie sich selber zum Inhalt machte und sich mit den Bedingungen ihrer selbst beschäftigte.

Dieser Hang zur Selbstreflexion erklärt immerhin die unzähligen Selbstzeugnisse vieler namhafter Künstler der Moderne sowie eine Vielzahl von Werken, die sich als Reflexionen und Lösungsvorschläge zu Problemen der Darstellung verstanden.

Die Selbstreflexivität, das Paradigma der künstlerischen Moderne, kam allerdings in den 60er Jahren mit der Postmoderne-Diskussion unübersehbar an ein Ende. Man denke nur an Arnold Gehlen und seine Rede von Repristination und Ermüdung. Gerade diese Feststellung eines Endes – aus heutiger Sicht vollkommen unplausibel geworden – weist darauf hin, dass damals noch eine gänzlich andere Sicht der Dinge dominierte: Hätte nicht das Paradigma einer Kunst geherrscht, die in ständiger Selbstreflexion vor allem Erkenntnisse über sich selber in eine Werkform bringen sollte, wie hätte man überhaupt auf die Idee kommen können, etwas sei hier in seinen Möglichkeiten erschöpft!

Aber auch jenseits der Selbstreflexion war Inhalt im 20. Jahrhundert eine in der Kunst gefragte Grösse, insbesondere in den 60er und 70er Jahren, als sich die Künstler vermehrt politischen Fragen widmeten. Nach – oder gerade wegen! – der immer lauter werdenden Skepsis gegenüber weiteren Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich der selbstreflexiven Kunst, bestand noch 1982 Joseph Beuys‘ wichtigster Beitrag zur deutschen Gegenwartskunst darin, dass er eine politische Partei gründete und an der Documenta 7 in Kassel Bäume pflanzen liess.

Selbstverständlich ist dies im Zusammenhang mit fundamentalen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen – und wenigstens in Deutschland immer auch vor dem Hintergrund einer zu verarbeitenden Nazivergangenheit – zu sehen. In politisch brisanten Zeiten ist es nur konsequent, dass die Kunst, als Spiegel ihrer Zeit, Politik mit reflektiert: Gesellschaften, in denen politische Umwälzungen stattfinden, werden sich auch in der Kunst mit Politik auseinandersetzen, ebenso wie Gesellschaften, in denen eine politisch stabile Situation herrscht, dies nicht tun.

Manch einer ist auch heutzutage noch geneigt, einer sogenannt engagierten Kunst nachzutrauern. Beliebt ist in diesem Zusammenhang, Vertreter aus anderen Ländern zu Hoffnungsträgern eines Revivals zu machen.

Und dabei scheint man jede soziale Relevanz vollkommen zu vergessen! Um politische Kunst angemessen rezipieren zu können, müssen die darin verhandelten Inhalte doch wohl Teil der eigenen Kultur sein. Sind sie dies nicht, so muss die Annäherung zunächst entweder im Sinne eines Erlernens dieser anderen Kultur, respektive einer Aneignung von darin massgeblichen Hard Facts geschehen, oder aber sie beschränkt sich auf die Faszination für das grundsätzlich Fremde. Dagegen ist an sich auch gar nichts einzuwenden, doch handelt es sich entweder um nichts anderes als um Bildung im herkömmlichen Sinne, verstanden als Aneignung kognitiven Wissens, oder aber um den Charme des Exotischen. Eine Ausstellung mit politischer Kunst um die Jahrtausendwende in Mitteleuropa ist doch ähnlich unsinnig wie eine Ausstellung apolitischer Kunst meinetwegen in China: Die in der Politik oder Entwicklungshilfe engagierten Menschen in Mitteleuropa werden ungefähr so zahlreich sein wie die elitären Kunstkenner in China; für den ganzen Rest bleiben solche Veranstaltungen eine Kuriositätenschau mit völkerkundlichem Unterton, bar jeder Identifikationsmöglichkeit.

Ich denke es geht weniger darum, erfahren zu wollen, was die Zugehörigen einer anderen Kultur erfahren, ebenso wenig um 'Ferienerlebnisse’ im Museum; es geht viel eher um eine internationale ästhetische Sprache, die kulturübergreifend lesbar ist. Der Anspruch, den beispielsweise Ausstellungen wie die Documenta 11 formulierten, war doch, sich mit dem Unbekannten in einem globalen Massstab auseinanderzusetzen, mit anderen Kulturen, anderen Menschen, anderen Sitten und Bräuchen. Hat man den eigenen Horizont schliesslich derart erweitert, so werden sich daraus auch viele neue ästhetische Möglichkeiten ergeben, die andernfalls nicht denkbar wären.

Es ist selbstverständlich eine ehrenwerte Absicht, sich für andere Länder und Sitten zu interessieren und die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturkreisen fördern zu wollen. Die Frage ist nur, ob die Kunst diesbezüglich die geeignete Plattform ist. Kunst ist immer Ausdruck einer spezifischen kulturellen Situation respektive Entwicklung. Bereits ein Blick in die historische Entwicklung unserer 'postkolonialen’ Gesellschaft lehrt, dass unser heutiger Begriff von Kunst sich erst langsam entwickelt hat und gerade einmal seit gut zweihundert Jahren mehr oder weniger stabil geblieben ist. Dies deutet darauf hin, dass bereits der Begriff 'Kunst’ auf andere Kulturen der Welt, etwa die hinduistische oder islamische, gar nicht so ohne weiteres anwendbar sein könnte, weil dort das gegenwärtige gesellschaftliche Organisationsschema nicht wie bei uns auf der Ausdifferenzierung kultureller Wertsphären basiert. Ebenso wenig wie es eine Kunst des Mittelalters wirklich gab, so gibt es im strengen Sinn auch keine islamische Kunst: Erscheint das eine lediglich in der retrospektiven Konstruktion als Vorläufer dessen, was wir heute unter Kunst verstehen, so ist das andere das Ergebnis einer Projektion westlich zivilisierter Massstäbe. Die Verständigung über interkulturelle Gemeinsamkeiten ist in der Tat eine wichtige Aufgabe des anbrechenden Jahrtausends, doch halte ich diesbezüglich den verständigungsorientierten Diskurs für weitaus geeigneter und dringender als den ästhetischen. Der ästhetische Diskurs kann erst als Folge bereits vorhandener Gemeinsamkeiten sinnstiftend sein, und nicht umgekehrt: Er ist per se kritisch und subversiv, also auf Vertrautes angewiesen.

Aber muss es dabei denn nur um den ästhetischen Diskurs gehen? Auch Kunstwerke können doch einen verständigungsorientierten Anspruch formulieren! Gerade Beiträge zur Situation von Menschen in der Welt, respektive zu Unrecht und Repression sind doch auch für die Kunst von Interesse. Hat nicht gerade die Kunst eine besondere Verpflichtung, diese Bereiche an die Öffentlichkeit zu holen?

Keineswegs. Die Kunst hat keinerlei Verpflichtung, auch nicht gegenüber moralisch ehrbaren Motiven. Wenn das Interesse eines Künstlers am Elend der Welt in eine ästhetisch überzeugende Form gebracht wird, dann ist das Kunstwerk so gut wie jedes andere auch. Wenn er allerdings reklamiert, es gehe um das Aufzeigen von Missständen und nicht um die künstlerische Qualität, dann weiss ich nicht, was sein Werk in einer Kunstausstellung zu suchen hat, denn hier verkehrt sich ein äusserst substantieller Anspruch unweigerlich in sein Gegenteil: Verleiht man einem existentiellen Problem eine Stimme in der kleinen Welt der Kunst und nicht in der grossen der Realität, so bewegt man sich nahe beim l’art pour l’art: In der Welt der Kunst wird markiert und für wichtig befunden, ohne irgendeine Konsequenz ausserhalb des Feuilletons. Stellt man einen Inhalt, meinetwegen die Völkerverständigung, vor den ästhetischen Massstab, so sollte man sich fairerweise auch am Bezugssytem des präferierten Inhalts messen und nicht an der Kunst. Also: 'Inwiefern leiste ich einen Beitrag zur Völkerverständigung’ ist dann die Frage und nicht 'einen Beitrag zur Kunst’. Die Offenlegung von Macht und Ohnmacht in der Welt, die Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins zugunsten von Verständigung, Kommunikation und Verständnis füreinander sind heute in der Tat wichtige Themen. Die Kunst richtet sich freilich von vornherein an ein kleines Publikum; möchte man dies nicht, so empfehle ich das Verlassen des Rahmens der Kunst. Als Dokumentarfilmer, Journalist oder Politiker hat man doch ganz andere Möglichkeiten wie als Künstler!

Die Frage wäre demnach eher, wie sich interkulturelle Verständigung gemeinsam mit dem ästhetischen Diskurs denken lässt. Man könnte beispielsweise überprüfen, inwiefern ästhetische Diskurse verschiedener Gesellschaften kompatibel sind, also ob es möglich ist, durch Kunstwerke etwas kulturell Fremdes zu begreifen. Es ist ja durchaus der Fall, dass man qua visueller Darstellung auch zu Erkenntnis gelangen kann. Also kognitives Begreifen (des Fremden) und damit Verständigung durch den ästhetischen Diskurs!

In der Tat kann man durch ästhetisch motivierte Darstellung zu kognitiver Erkenntnis gelangen. Ich denke aber es ist wichtig festzuhalten, dass wir hier nicht von Darstellung im Allgemeinen sprechen dürfen, sondern von Darstellung gemäss ästhetischen Grundsätzen, welche auch immer diese dann seien. Gerade in der Naturwissenschaft, ganz besonders in der Grundlagenphysik, lassen sich ja Erkenntnisse überhaupt nur noch darstellerisch begreifen, wenn sie nicht sogar bereits über den Weg der Darstellung gewonnen wurden. Dies hat freilich nicht zwingendermassen mit ästhetischer Kommunikation zu tun, sondern zunächst einmal mit visueller: Nicht jede visuelle Kommunikation ist immer schon ästhetisch, ebenso wenig wie ästhetische Kommunikation lediglich visuell möglich wäre.

Damit wäre aber immerhin zugestanden, dass ästhetische Kommunikation durchaus in der Lage ist, Hard Facts über eine andere Kultur zu generieren.

Dem muss ich in der Tat zustimmen, allerdings bleibt das Ganze doch eher ein Erfolg auf dem Papier: Man muss nämlich wiederum damit rechnen, dass zu der ästhetisch angeregten Erkenntnis wiederum nur die gelangen, die bereits dieselben Vorbedingungen haben. Auch das Fremde, das in einem Kunstwerk unverhofft Sinn macht, tut dies nur aufgrund von gegebenem Wissen, respektive Wiedererkennung einzelner Bildbestandteile. Bei Kunstwerken anderer Kulturkreise versteht man deshalb auch oftmals die Pointe gar nicht, und zur selben Erkenntnis wie die Angehörigen dieser anderen Kultur zu gelangen, scheint mir ein äusserst seltener, wenn auch erfreulicher Glücksfall zu sein. Der ästhetische Reiz von Kunstwerken entspricht meiner Meinung nach viel eher und häufiger einer staunenden Ferienstimmung, was man allerdings sehr wohl als Beitrag zur Völkerverständigung schätzen sollte. Allerdings ist dies sowohl im Museum, als auch auf Reisen ins Ausland möglich: Man versteht vielleicht nicht, weshalb andere Völker etwas Bestimmtes ganz anders machen als wir, muss jedoch anerkennen, dass es durchaus sinnvoll ist. Ganz nach dem Motto: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!

Der Rezeption von Kunst aus anderen Kulturkreisen haftet damit unvermeidlich etwas Völkerkundliches oder Exotisches an. Wie sieht es dagegen mit dem Anspruch aus, sich nicht über bestehende Kunstwerke zu verständigen, sondern an einer Kunst zu arbeiten, die den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen einer mehr und mehr globalisierten Welt Rechnung trägt? Also nicht Veränderung durch Kunst, sondern Veränderung der Kunst!

Die Forderung nach einer gewissen Erweiterung ist hier zu Recht angebracht, denn viele der Geschehnisse, die uns tagtäglich beschäftigen, sind durch die internationale Vernetzung und Berichterstattung in der Tat von globaler Relevanz. Diesbezüglich war der 11. September 2001 sehr aufschlussreich: Nach den Attentaten wurden überall Stimmen laut, die Kunst habe in irgendeiner Form darauf zu reagieren. Spannend daran waren natürlich weniger die schulmeisterlichen Forderungen nach einer politischen oder gesellschaftskritischen Kunst, sondern die weltweite Betroffenheit, der globale Massstab. Unmissverständlich wurde deutlich, dass erstens in der Realität gemeinsame, globale Identifikationen sehr wohl vorhanden sind und zweitens, dass diese eine absolut gegensätzliche Wertung erfahren können. Was für die einen der Inbegriff einer kulturellen Hochblüte ist, verkörpert für die anderen das Niedrigste und Verabscheuungswürdigste überhaupt.

Vielleicht kann die Kunst jedoch erreichen, was in der Realität so schwierig ist: Gerade weil sie für nichts als sich selber steht, sich moralisch emanzipiert hat und jede Instrumentalisierung ablehnt, ist sie doch viel eher in der Lage, globale Identifikation bereitzustellen, die weder gut noch böse ist.

Das ist intellektuelles Gefasel. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass unser Verständnis von Kunst das Ergebnis einer ganz spezifischen Kulturgeschichte darstellt; selbstverständlich können Menschen, die dieses Konzept verstehen, ästhetisch kommunizieren. Die Unabhängigkeit der Kunst von Moral würde freilich kein traditioneller Islamist befürworten, denn für ihn sind auch Kunstwerke den religiösen Vorstellungen Rechenschaft schuldig. Und passt dies nicht gut zusammen, so ist auch gegen die Sprengung eines Weltkulturerbes nicht viel einzuwenden. Ein weiteres Beispiel diesbezüglich wäre die Nacktheit. Wir betrachten selbst Pornographie in einem Kunstwerk als etwas vollkommen Unproblematisches, während in vielen Ländern bereits einfache Nacktheit gegen jeden Anstand verstösst. Die Streetparade wäre wohl in vielerlei Hinsicht ein ebenso passendes Ziel wie die Twin Towers gewesen.

Soll dies also bedeuten, dass ästhetische Kommunikation über kulturelle Unterschiede hinweg nicht möglich sein kann? Das scheint mir kaum der Fall zu sein, so sind doch beispielsweise Bilder tiefmenschlicher Regungen, seien sie nun von Schmerz oder Freude geprägt, in der Tat weltweit und über sämtliche kulturellen Unterschiede hinweg lesbar.

Natürlich sind sie das. Aber schon wieder verwechselt man visuelle und ästhetische Kommunikation miteinander... Welchen Aspekt auch immer man zu Ende denkt, am Ende bleibt immer die Feststellung einer eigentlichen Untauglichkeit des ästhetischen Diskurses für interkulturelle Kommunikation. Dies bedeutet keineswegs, dass der Blick auf andere Kulturen nicht wertvoll wäre, denn er bereichert unseren eigenen ästhetischen Diskurs enorm. Diese Bereicherung als einen Beitrag zur Völkerverständigung auszugeben, halte ich allerdings für scheinheilig.

Das ist es allerdings, denn mit der Aussage, fremde Kulturen gewissermassen als eine Art Frischzellenkur für die eigene zu benutzen, bewegt man sich gefährlich nahe bei einer Form von Kulturimperialismus: Man zieht in die Welt und nimmt sich, was einen selbst bereichert. Ich denke allerdings, dass die Kunst hinsichtlich der interkulturellen Verständigung viel mehr Gewicht auf den sozialkritischen Aspekt legen sollte als lediglich den ästhetischen. Dies ist ja gerade einer der Imperative an die Kunst, den die Globalisierung stellt!

Das sehe ich allerdings vollkommen anders. Auch in der Weltgemeinschaft hat die Kunst nicht die primäre Funktion, politisch zu sein. Genauso wenig ist sie dazu verpflichtet, der Weltgemeinschaft einen Boden vorzubereiten; abgesehen davon, dass sie dies aus den vorher genannten Gründen gar nicht könnte. Die Globalisierung ist kein Grund, das Wehklagen über die verloren gegangene soziale Relevanz der Kunst neu zu beleben. Kunstwerke, die sich mit sozialkritischen Aspekten beschäftigen, sind mir noch immer verdächtig, insbesondere dann, wenn sie nach Sozialkitsch oder peinlichen Betroffenheitskunstwerken riechen.

Also stellt die Globalisierung keine neuen Anforderungen an die Kunst und man kann beruhigt weitermachen wie eh und je?!

Die normativen Grundlagen der Kunst verändern sich mit der Globalisierung – wenigstens in absehbarer Zeit – sicherlich nicht. Auf jeden Fall denke ich, dass exakt diese Grundlagen es Wert sind, verteidigt zu werden, und nicht immer nur hinterfragt. Gerade die Unabhängigkeit der Kunst sehe ich als eine ganz spezifische Errungenschaft unserer Kultur an, die für mich nicht verhandelbar ist. Dazu gehört auch die Einsicht, dass politische Kunst nicht per se besser als unpolitische ist. Aber selbstverständlich wird sich auch das Aussehen einer freien und unabhängigen Kunst durch die globalen Entwicklungen verändern und dazu gehört vielleicht, dass sie sich wieder mehr mit politischen Inhalten beschäftigt. Ich würde dies allerdings lieber dem Lauf der Zeit überlassen, und niemals im Sinne einer Forderung der Kunst verschreiben.

Ich denke, seit den 1990er Jahren steht man auch in Europa dem politischen Engagement in der Kunst skeptischer gegenüber und bevorzugt es, die Politik den Politikern oder Greenpeace zu überlassen. Die einst in Kunstwerken diskutierten Inhalte haben sich ins Fernsehen, in Podiumsdiskussionen oder Politmagazine verlagert und überlassen die Kunst sich selber.

Ich kann nur sagen: Gott sei Dank. Engagement und Kritik an der Gesellschaft sind ebenso wie die Beschäftigung mit Bedingungen künstlerischen Ausdrucks zu einer von vielen Möglichkeiten geworden, Möglichkeiten, die nicht beanspruchen können, besser oder wertvoller zu sein als andere. Ob Selbstreflexion oder Politik, ein Gedanke oder der eigene Alltag, mathematische Modelle, Marketingkonzepte oder Mechanismen freier Marktwirtschaft: Die Kunst kennt keine privilegierten Inhalte mehr, die grossartige Quintessenz am Ende der Moderne muss endlich ernst genommen werden: Alles kann Kunst sein!

Und als Gegenbeispiel dazu besann man sich um die Jahrtausendwende wiederum auf Inhalte, die Kunstwerke waren wieder nahe am realen Geschehen orientiert und wurden teilweise rein dokumentarisch!

Zunächst ist dazu zu sagen, dass dies ein Problem des Umgangs mit Freiheit reflektiert: Der postmoderne Imperativ einer Gleichwertigkeit verschiedenster Stile scheint die Welt kaum auzuhalten, lieber fährt sie mit einem bunten Reigen aus Trends und Moden weiter. Andererseits sind Kunstwerke immer ein Spiegel der Realität, und diese wurde exakt um die Jahrtausendwende plötzlich wieder als interessant, oder vielleicht eher: problematisch wahrgenommen. Für die 'westliche’ Welt der 1990er Jahre gab es ja kaum grössere Probleme, die New Economy versprach den grossen Reichtum und so weiter. Das Ganze änderte sich allerdings mit dem Zerfall der Börsenkurse, setzte sich in den anschliessenden Managerskandalen fort und fand ein beinahe schockartiges Ende mit dem 11. September 2001.

Für mich macht es ganz den Anschein, dass du der Kunst überhaupt keine politische oder sozialkritische Kraft mehr zugestehst. Ich kann die Einwände teilweise nachvollziehen, aber eine Kunst, die derart autonom funktioniert und jede politische Haltung zunächst einmal ablehnt, wird doch zu einem abgehobenen ästhetischen Spezialdiskurs. Ich halte die Ablehnung der politischen Relevanz und den Rückzug in den ästhetischen Elfenbeinturm für falsch und gefährlich.

Ich habe keineswegs gesagt, dass die Kunst für mich keine politische Dimension habe, das ist ein Missverständnis. Was ich dagegen für problematisch halte ist den Blick vorschnell und oberflächlich auf Krisengebiete der Welt zu richten und sich derart am Tagesgeschehen anzubiedern. So etwas finde ich unkritisch: Einerseits die Medien zu kritisieren und dann im gleichen Zuge die von diesen diktierten Inhalte auch noch in der Kunst platt zu walzen.

Die Orientierung am Tagesgeschehen sichert der Kunst immerhin eine gewisse Relevanz. Du selber hast vorher darauf hingewiesen, wie sehr der ästhetische Diskurs auf der Realität basiert. Also muss man diese auch ernst nehmen!

Absolut. Aber sich an den Themen des Boulevardjournalismus zu orientieren scheint mir eine zweifelhafte Lösung. Unsere Realität hält sehr viele Themen und Probleme bereit, die langfristiger, wenn auch auf den ersten Blick weniger spektakulär sind, die aber weitaus profunder und existentieller unsere Gesellschaft betreffen. Natürlich ist die Rolle der Frau in islamischen Gesellschaften etwas, das diskutiert werden soll, aber im Kunstdiskurs scheint man solche, uns nur indirekt betreffenden Probleme ungemein aufzublasen, während man vergisst, was vor der eigenen Haustüre alles nicht in Ordnung ist. Schaut man die Dokumenta 11 an, so bekommt man doch den Eindruck, überall in der Welt strotze es nur so von Elend, Armut und Ungerechtigkeit, aber bei uns sei eigentlich alles bestens. Vielleicht ist es jedoch einfach ein Zeichen der Zeit, dass die Kunst dorthin schaut, wo es momentan am lautesten knallt und wo es am dramatischsten ist. Vielleicht ist gerade diese schlichte Sensationsgeilheit das wirklich Zeitgenössische.

Das käme ja eigentlich dem Vorwurf gleich, dass die neue Politisierung in der Kunst nichts mit einer neuen Inhaltlichkeit zu tun hat, sondern einfach eine neue Form von Oberflächlichkeit ist.

Viele Verteidiger einer sogenannt politischen Kunst scheinen gar nicht einsehen zu wollen, dass das, was sie lautstark einfordern, auf einer strukturellen Ebene in vielen Variationen immer schon gegeben ist. Indem die Kunst als ästhetischer Diskurs gelingt, ist sie nämlich bereits politisch und sozialkritisch: Der ästhetische Code fordert ja eine plötzlich andere Sehweise auf die Welt, mit ihm begibt sich das Kunstwerk auf unbekanntes und unsicheres Terrain! In der Unsicherheit und Subjektivität der ästhetischen Erfahrung liegt das wahrhaft kritische Sprengpotential der Kunst, und dieses gilt es dann auch auszuhalten. Dass dies offenbar alles andere als einfach ist, zeigen meiner Meinung nach gerade diejenigen Stimmen, die sich mit einem sozialkritischen Inhalt lediglich rückversichern wollen. Ich selber glaube an die gesellschaftsverändernde, sozialkritische und politische Macht der Kunst, aber sicher nicht in Form von moralinsauren Lehrstücken, sondern in Form eines Diskurses, der in der Welt, wie sie ist, immer wieder neue und überraschende Sinnzusammenhänge generiert, die trotz fehlender Objektivität bestehen können.

Begeben wir uns also auf die strukturelle Ebene. Ganz allgemein kann man das Problem des Inhaltes innerhalb des ästhetischen Diskurses wie folgt beschreiben: Für jeden Inhalt gilt, dass, ist er zu dominant, die Gefahr besteht, dass ein Kunstwerk zur blossen Illustration verkommt, während im umgekehrten Fall, wenn also keinerlei begriffliche Bezeichnungen und Interpretationen mehr angeregt werden, ein Kunstwerk vollkommen langweilig oder unsinnig wird: Das eine Mal wendet man sich ab, weil man alles, das andere Mal, weil man nichts versteht.

Das ist richtig. Inhalt taucht in der Struktur ästhetischer Erfahrung eigentlich in zweierlei Hinsicht auf. Zunächst einmal in sogenannten Redundanzen, also Anschlussstellen, die im Sinne von Bekanntem und Vertrautem dafür sorgen, dass ein Kunstwerk nicht als vollkommener Unsinn erscheint; dies können bekannte Geschichten und Sachverhalte sein, Gegenstände oder Begriffe, im Extremfall nur noch materiale Eigenschaften der Werke selber.
Aber noch auf eine andere Weise spielt Inhalt in der Kunst eine wichtige Rolle: Im Sinne eines Attraktors lädt er das vorliegende Arrangement mit Bedeutung auf und setzt so die Suche nach Sinn und Bedeutung überhaupt erst in Gang: Ästhetische Erfahrung stellt sich nur dann ein, wenn man den Verdacht auf einen verborgenen Inhalt hat und diesen dann begrifflich zu explizieren versucht. Als reine Annahme, dass es einen solchen geben müsse, gehört Inhalt zu den Grundbedingungen von Kunst schlechthin.

Damit stehen Inhalte am Anfang und am Ende einer jeden ästhetischen Erfahrung, und an beiden Stellen tauchen dieselben Probleme auf: Ein Zuwenig an Redundanz führt wie ein vollkommen offener Attraktor zum Eindruck von Unsinn, während zuviel Redundanz die ästhetische Erfahrung durch die Beschneidung jeglicher Freiheitsgrade blockiert, oder ein zu stark definierter Attraktor die Offenheit des Werks im Sinne einer abschliessenden und allein gültigen Interpretation zerstört.

Interessanterweise bot das Vorhandensein eines gesamtgesellschaftlich privilegierten Inhaltes den immensen Vorteil, dass man sich innerhalb eines abgesteckten Feldes voll und ganz auf das ästhetische Erlebnis konzentrieren konnte. Wenn alle Kunst politisch ist, wird man sich in sehr starkem Masse auf die ästhetische Überzeugungskraft einzelner Positionen verlassen können. Wenn dagegen die Inhalte mannigfaltig werden, wird man sie sehr viel stärker gewichten und das ästhetische Erlebnis hintanstellen: Inhalt kann plötzlich gewählt werden, wodurch sich jedoch die Aufmerksamkeit automatisch auf die jeweilige Auswahl richtet. Gerade dadurch wird Inhalt zu einem Zuviel: Ästhetisch geniessbar ist dann bloss noch diejenige Kunst, mit deren Inhalt man sich identifizieren kann, weil man sich für ihn interessiert.

Einen Ausweg aus dieser Situation gibt es möglicherweise durch einen Rekurs auf ein durchaus auch heute noch existierendes Set von Inhalten, die das Leben sämtlicher Individuen unserer Gesellschaft prägen; es ist beispielsweise auffällig, wie in den 80er Jahren das Interesse am eigenen Körper und Alltag zunahm und zu einem wichtigen Anlass künstlerischer Produktion wurde.

Ich halte eine andere Strategie für sehr bestechend, nämlich bereits die Redundanzen so inhaltslos wie irgend möglich zu machen, also für Anschlussfähigkeit zu sorgen, ohne dabei mit bezeichenbaren Inhalten zu arbeiten. Dies tut man, indem man mit ästhetischen Einzelphänomenen arbeitet, also ästhetisierten Redundanzen. Man kopiert gewissermassen ästhetische Phänomene, die jenseits der Kunst in der Welt existieren, in das Kunstwerk hinein und übernimmt – da es ja ästhetische Phänomene sind! – deren inhaltliche Offenheit.

Konkreter gesprochen heisst dies, dass beispielsweise keine Hakenkreuze oder Kommunistensterne mehr auftauchen, sondern Autos oder Turnschuhe, Dinge, die zum gesellschaftlichen Rüstzeug des ästhetisierten Individuums gehören?

Beispielsweise. Jedenfalls entspricht dies nicht einfach einem neuen Set profanisierter Symbolik, sondern einer effektiven Andersartigkeit der Redundanz: Statt mit Symbolen arbeitet man mit Hieroglyphen, also mit Zeichen, die sehr wohl eine Bedeutung haben, eine Bedeutung jedoch, die man nicht kennt, respektive die man kaum mehr in eine verbal kommunizierbare Form bringen kann. Statussymbole wie Turnschuhe, Autos, Kleidermarken oder Uhren sind im heutigen Alltag zu Objekten ästhetischer Kommunikation geworden, zu Objekten, mittels derer wir aussagen, wer wir sind, wie wir denken und was wir wollen. Und gerade das macht es aus: ohne es noch in Worte fassen zu müssen! Der Vorteil dabei ist, dass auch derjenige, der keine Nike Turnschuhe trägt, in der Regel weiss, dass sich das Tragen von Nike Turnschuhen einer Entscheidung verdankt, und somit den Code des Nike-Turnschuh-Tragens kennt: Die Redundanz Nike, und zwar im Sinne eines ästhetisierten (fetischisierten) Objekts, ist für weitaus mehr Menschen als nur die Nike-Turnschuhträger gegeben.

Und müssen dann Träger langer Haare und schwarzer Kleidung damit rechnen, dass man ihnen einen bestimmten Musikstil unterstellt, Strickjackenträger mit hennagefärbten Haaren hingegen, dass man ihnen ein Engagement bei Greenpeace oder WWF nachsagt und sie strikt als Vegetarier behandelt...?!

Dieses Spiel liesse sich beliebig fortsetzen, aber darum geht es hier nicht: Es geht darum, in den sich häufenden Auftritten solcher und ähnlicher Motive im Bereich der Kunst eine Möglichkeit zu sehen, wie Redundanz ohne inhaltliche Ausdefiniertheit denkbar ist. Selbstverständlich gibt es weitere Möglichkeiten, beispielsweise – und wohl so alt wie die Kunst selber – die Verwendung von Naturschönem oder aber die Bereiche des Unheimlichen.

Kündigt sich damit eine Rückkehr des Ästhetischen an? Sollen damit die 'nicht mehr schönen Künste' von Hans Robert Jauss aus den 60er Jahren heute von den 'nur noch schönen' abgelöst werden?

Eine solche Kunst liesse sich analog zur politischen, gesellschaftskritischen oder individuell-mythologischen Kunst in der Tat als ästhetische Kunst bezeichnen. Es wäre dies eine Kunst, die so nahe wie möglich an der Grenze zur Inhaltslosigkeit operiert und die nur noch das ästhetische Erlebnis, die ästhetische Überzeugungskraft sucht. Man beabsichtigt also nicht mehr einen Beitrag zu einem politischen oder kunsttheoretischen Diskurs zu machen und bemerkt quasi ex post dessen ästhetische Gelungenheit, sondern man legt es von Beginn weg auf das ästhetische Erlebnis – und nur das! – an; Redundanzen aus Politik, Kunsttheorie oder was auch immer nimmt man dabei bestenfalls noch in Kauf.

Die Formel 'ästhetische Kunst' klingt ein wenig nach einem Pleonasmus, vor allem wenn man bedenkt, dass jedes Kunstwerk ästhetisch überzeugend sein muss.

Gerade die Tautologie der Formel – denn: Kunst ist in der Tat immer schon ästhetisch! – verrät eine Sonderstellung: Jenseits aller Trends und Moden handelt es sich um eine Art Basisprogramm, das als sozusagen 'reine Kunst' unbeschränkte Gültigkeit hat.
Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass es einfacher geworden wäre. Eine zweite und dritte Garde bildender Künstler wird sich vielleicht darin gefallen, Naturschönes, fetischisierte Konsumartikel oder Effektmaschinen aus der Unterhaltungsindustrie abzubilden und uns vorzuführen, wobei dies letztlich nichts anderes wäre als die Verlängerung der ursprünglichen Idee des Readymade. Genauso wenig wie ästhetisch überzeugende Arrangements darauf angewiesen sind, dass ihre Redundanzen ästhetischer Provenienz sind, so sind auch ästhetisch hochwertige Redundanzen kein Garant dafür, dass ihr Zusammenspiel zum ästhetischen Erlebnis würde.
Dem Vorgehen, im Alltag – und sei es nun in der Welt des Konsums, der Natur oder auch der Politik – ästhetische Objekte aufzuspüren und sie dann als solche in Form von Kunstwerken zu markieren, ist somit nicht von vornherein Erfolg beschieden; überzeugend hat schliesslich das 20. Jahrhundert gezeigt, dass auch das Hässliche schön sein kann, oder eben das Unästhetische ästhetisch.

Bleiben wir noch ein wenig beim ästhetischen Wert. Die Vielfalt der Kunst lässt zwar jeden Versuch, eine Art Rezeptbuch für Künstler zu schreiben, als vollkommen sinnlos erscheinen, nichtsdestotrotz folgen ästhetische Arrangements immer wieder demselben Grundschema. Allein durch die Tatsache, dass ästhetische Erfahrung einer sehr wohl beschreibbaren Grundstruktur folgt, ergibt sich, dass gewisse Strategien benennbar sein müssen, die, wenn sie auch nicht deutlich machen können, was zum ästhetischen Arrangement wird, so doch, wie.

In der Kunstgeschichte gibt es zwei Epochen respektive Bewegungen, die diesbezüglich aufschlussreich sind: Einerseits die Romantik, andererseits der Surrealismus. Dass die Epoche der Romantik in diesem Zusammenhang einen ausgezeichneten Stellenwert besitzt, überrascht eigentlich kaum angesichts der Tatsache, dass zu jener Zeit die Kunst erstmals als ein autonomes Teilsystem der Gesellschaft begriffen wurde. Nachdem man sämtliche externen Funktionsbestimmungen, die seit der Antike immer wieder mit der Kunst in Verbindung gebracht worden waren, verabschiedet hatte, schien sich die Kunst zum ersten Mal ihrer selbst bewusst geworden zu sein. In der damals neu entstehenden philosophischen Disziplin der Ästhetik wurde die Autonomie der Kunst gegenüber Wirtschaft, Religion, Recht und Politik wenn auch nicht explizit, so doch symptomatisch in der Ablehnung einer moralischen Verpflichtung festgehalten. Kunst ist seit der Romantik erklärtermassen keinem anderen gesellschaftlichen Teilsystem mehr Rechenschaft schuldig.

Die Annahme ist sicher nicht falsch, dass sich ein solch theoretisches Bewusstsein auch auf der Werkebene widerspiegeln musste. In der Tat wurden insbesondere in Deutschland und England ab Ende des 18. Jahrhunderts plötzlich Kunstwerke geschaffen, die auf etwas ganz anderes Wert zu legen schienen als ihre Vorgänger. Die bildende Kunst begann, im übrigen parallel zur Literatur, sich Phänomenen des Sonderbaren, Unerklärlichen und Unheimlichen zuzuwenden, und war anstatt um narrative Qualitäten vor allem um die Erregung eines bestimmten Gemütszustandes im Betrachter bemüht...

...und mit einem dementsprechend ausgerichteten Fokus trat ein neues Set von Bildinhalten ins Rampenlicht, ein Set, das keineswegs vollkommen neu war, das jedoch plötzlich zum eigentlichen Mittelpunkt der Werke wurde.

Aus heutiger Sicht ist wirklich beachtlich, mit welcher Sicherheit in der Romantik Motive geschaffen wurden, die bis heute nichts von ihrer ästhetischen Qualität verloren haben. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie vom Betrachter mit einer undeutlichen Bedeutung aufgeladen werden und ihn auf eine Art berühren und faszinieren, die kaum erklärbar ist. Für die Romantik ist ein Kunstwerk dazu da, Empfindungen und individuelle Vorstellungen anzuregen und nicht, sie bildlich auszuformulieren. Es ist selber ein Ort des Übertritts, nämlich in die eigene private Anschauung; angesichts dieser Tatsache war es nur folgerichtig, dass man das Interesse auf Grenzphänomene, sei es zwischen Körper und Geist, Leben und Tod, Wissen und Glauben oder eben: Realität und Fiktion zu richten begann.

Das Wichtigste ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese Grenzphänomene in ästhetisch aufgeladenen Bildkomponenten wiederfinden. Der gemeinsame Nenner der neu geschaffenen Bildmotivik lässt sich vielleicht am besten so beschreiben, dass kognitiv erschliessbarer Gehalt einzelner Bildbestandteile zugunsten von suggestiven Bedeutungsfeldern aufgegeben wurde. Zu diesem neuen ästhetischen Set von Bildmotiven gehören die riesenhaften Blumen ebenso wie die Geister, Zombies und Engel, oder die Friedhöfe und Dämmerstimmungen. Konnte man früher gewissermassen mit einem ikonographischen Wörterbuch die Bildmotivik wenigstens in ihren Einzelteilen entschlüsseln, so war dies ab jetzt nicht mehr möglich, denn deren Bedeutung wurde emotionalisiert und damit offen: gerade dies war ja das Ziel. Dass die Formel ästhetischer Erfahrung, also die versuchte Begriffsbildung und -zuordnung zu etwas Wahrgenommenem, die doch immer wieder scheitert, da am Ende unvollständig, plötzlich auf der Ebene der einzelnen Bildmotive Anwendung fand, scheint mir ein ausgezeichnetes Merkmal der Romantik zu sein.

Was die Romantik vor allem auf der Ebene der Bildmotive zu entdecken und pflegen begann, machte schliesslich der Surrealismus zu einem erklärten und universalen Bildprogramm. Das, was die surrealistischen Manifeste am Anfang des 20. Jahrhunderts programmatisch formulierten, war substantiell nicht fundamental verschieden von den Anliegen der Romantik, und es verwundert kaum, dass kunsthistorisch nahtlos Verläufe vom einen zum anderen nachzeichenbar sind. Während die spezielle Leistung der Romantik war, neue Einzelmotive in die Kunst einzuführen, so richtete der Surrealismus sein Hauptaugenmerk auf die Zusammenstellung und das Arrangement der einzelnen Komponenten. Lautréamonts Diktum, dass «Surrealismus das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch» sei, verdeutlicht dies recht gut: Alle drei Bestandteile eines solchen Bildprogramms sind für sich genommen vollkommen unproblematisch und nicht einmal von besonderem ästhetischen Wert; sie sind selbstverständliche und bezeichenbare Bestandteile der uns umgebenden Welt. In einer bestimmten Konstellation, wie der eben beschriebenen beispielsweise, werden sie freilich sonderbar und suggerieren eine nicht mehr bezeichenbare Bedeutung.

Da bin ich gleicher Meinung. Die neue und überraschende Kombination von Bekanntem in einem Arrangement, das eine unbekannte und nicht bezeichenbare Bedeutung suggeriert, ist der Kern des surrealistischen Programms.

Zusammengenommen könnte man also sagen, dass es zwei ästhetische Fundamentalstrategien gibt, die man analog zu ihrer kunsthistorischen Blütezeit als die romantische und die surrealistische bezeichnen kann...

Blendet man die Problematik solcher Bezeichnungsfragen einmal aus, ja. Natürlich wäre es ein verhängnisvolles Missverständnis, würde man annehmen, Romantik und Surrealismus hätten da etwas aus dem Nichts geschaffen, denn ohne Schwierigkeiten wird man Werke früherer und späterer Epochen finden, die über eine ästhetisch aufgeladene Bildmotivik verfügen oder bekannte Elemente in unüblicher Rekombination vorführen. Gerade dies ist ja der Grund, weshalb man die beiden beschriebenen Vorgehensweisen als universale und überzeitliche ästhetische Fundamentalstrategien bezeichnen kann. In der Romantik und im Surrealismus treten sie nur derart prominent in den Vordergrund, dass sie vor allen weiteren Bildinhalten zur eigentlichen Hauptsache werden.

Aus einem solchen Verständnis ästhetischer Strategien ergibt sich natürlich zwingendermassen eine Art Bauplan, wie man ästhetische Erfahrung maximieren kann. Möchte man das Statement des Surrealismus noch einmal bemühen, so könnte man heute vielleicht so formulieren: Das ideale Kunstwerk ist ein Zusammentreffen eines Nike Turnschuhs mit einer Nebelmaschine auf einem Friedhof.

Das Vorgehen als solches ist kein Geheimnis mehr, sehr wohl jedoch die Formfindung selber: Gerade weil das Vorgehen bekannt ist, kann man alleine mit der Anwendung desselben kaum mehr überraschen. Wenn alle wissen, welches die strukturellen Grundingredienzen ästhetischer Erfahrung sind, dann wird es um so spannender sein zu beobachten, welche substantiellen Formfindungen in Zukunft dafür angeboten werden.




Dieser fiktive Dialog ist der Publikation 'Artificialities – Kleines Helmhaus 2000 – 2002' (Christoph Merian Verlag) entnommen. Da es sich beim Text in der Online-Fassung um ein work in progress handelt, ist ein Meinungsaustausch jederzeit erwünscht.

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