Peter Kraut

Metamusik für den Dancefloor

"Musik aus Strom" nennt sich ein deutsches Plattenlabel, und das trifft die Sache nicht schlecht, von der hier die Rede ist: Die in alle Richtungen ausufernde Masse elektronisch hergestellter Klänge und Rhythmen, die sich mit fein verästelnden Referenzen im Rahmen der Gebrauchsmusik - sprich: DJ-tauglich - präsentiert, dominiert den Diskurs in der Popwelt und stiftet nicht wenig Verwirrung. Braucht man also wirklich "kompaktes Wissen für den Dancefloor", wie die Zeitschriftenreihe testcard es vermitteln will, um sich noch einigermassen zurechtzufinden? Darf man sich noch ohne Interpretationshilfe in den Plattenladen wagen? Schaut man sich die hilflose Terminologie an, die zur Beschreibung dieser Musik verwendet wird und liest man wiederholt die Klagen, eine adäquate Kritik derart abstrakter Musik sei nicht mehr möglich – ja dann scheint es so. Headz, Big Beat, Old School, Nu School (in vielfachen Ausführungen), Hardstep nennen sich Subkategorien, die wie die Mode wechseln. Und wenn das nichts klärt, nennt man es einfach Electronica. Dieser Unübersichtlichkeit entspricht aber nur die Vielfalt der Quellen, die von den Produzenten elektronischer Musik benutzt werden. Hier gibt es keine Abgrenzungen mehr: wildeste Querverbindungen werden hergestellt, disparateste Methoden kombiniert, seltsamste Klänge destilliert. Aus Fehlgeräuschen bei der CD-Herstellung und kapputten Filtern entstehen hochstilisierte tanzbare Klangkunstwerke, Pioniere der Kunstmusik wie Pierre Henry, Karlheinz Stockhausen oder Oskar Sala kommen neu zu Ehren und improvisierende Musiker, die vormals das Geräusch als subversives Element eingesetzt und daraus ihr eigenes Vokabular geschaffen haben (wie etwa die britischen AMM oder der Saxophonist Evan Parker), werden kurzerhand auf die Bühne, in den Club geholt. Die obligate Ration wertvoller Trivialmusik – Burt Bacharach, Martin Denny oder Esquivel – sowie die philosophische Rückversicherung etwa bei Gilles Deleuze stecken das Feld ab, innerhalb dessen sich heute die aktuellsten Produktionen positionieren.

Trotzdem: An einigen jüngst erschienenen CDs, die alle hart den musikalisch-philosophischen Puls der Zeit fühlen wollen, lassen sich ganz unterschiedliche Zugänge und Techniken ablesen, mit denen heute auf die totale – weil digitale – Verfügbarkeit von Klängen reagiert wird. Zwei Ansätze sind dabei besonders spannend: Der knapp dreissigjährige afro-amerikanische Künstler, Autor und DJ Paul D. Miller, bekannt als DJ Spooky a.k.a. that subliminal kid, akademisch gebildet und in komplexen Zusammenhängen denkend, ist einer erzählerischen Tradition verpflichtet, die letztlich im Jazz begründet liegt und im Hip-Hop fortgeschrieben wurde. Spooky verweist ständig auf die Tradition der amerikanischen Populärmusik, gibt sich opulent, malerisch, extrovertiert, mitunter auch um eine geläuterte Jugendlichkeit bemüht. Seine Rhythmen sind durchschnittlicher Machart, seine simultanen Text-, Klang-und Zitatmontagen aber vielschichtig und lustbetont. In eingeschobenen Gesprächsfetzen kommentiert er sein Schaffen gleich selbst, gipfelnd in der alten Frage: "Who owns the mix?" Ähnlich im Zugang, aber mit anderen Materialien operiert der französische DJ Eric M. In hochpräzisen Konstruktionen montiert er die Kunstmusik des 20. Jahrhunderts mit den Techniken, die die DJ-Kultur etabliert hat. Maurizio Kagel, Pierre Henry, Edgar Varèse und andere mehr werden nicht zufällig, sondern intelligent und mit hohem klanglichen Verständnis kurzgeschlossen. Auch Eric M. ist sehr konkret und erzählt Geschichten über Musik, freilich etwas ernstere als sein Kollege Spooky.



Völlig anders, und ebenfalls mit hohem Anspruch auf Aktualität, arbeiten einige deutsche und österreichische Klangkünstler (Frauen sind in dieser Szene selten anzutreffen). Projekte, die sich Gas, Radian, Pole oder Funkstörung nennen, Lars Brinkmann oder Christian Fennesz reduzieren und abstrahieren die Rhythmen der letzten zehn Jahre auf die pure Essenz, bauen in ihre technologische Ästhetik oft geheimnisvoll-verschwommene Klänge ein, zielen klar auf einzelne Stimmungen. Dies tun sie nicht ohne Erfolg und sehr zur Freude interpretationshungriger Journalisten, die aus diesen schwermütigen, oft zart pulsierenden Wolken hochkomplexe Baupläne und Botschaften entschlüsseln, selbst wenn es sich nur um eine kitschige Melodie hinter einem zugepamptem House-Beat handelt. Zu dieser bedeutungsschweren Musik will man spät abends rumhängen, nicht mehr tanzen. Mit dem abgeklärten Charme urbaner Mittdreissiger kreiert diese Szene einen Sound, der zuweilen wie sein eigener Untergang klingt und – erstaunlich – trotzdem als Popmusik wahrgenommen wird.

Beide Zugänge sind voller Referenzen und Kommentare, reflektieren eine grosse Masse an aktueller Unterhaltungsmusik und Produktionstechnologie, verwerten auf je eigene Art die Geschichte. Und obschon diese Metamusik sich gegen die Plattheiten des Popmarktes abgrenzt, will sie der Hipness und den Annehmlichkeiten eben dieses Marktes nicht entsagen. Spooky erkauft sich das mit Anleihen im Hip-Hop und billiger Video-Game-Ästhetik, sowohl in der Grafik wie im Sound. Die andern umgeben sich mit einer durchgestylten Reduziertheit und sind darauf bedacht, den plattenlegenden DJ nicht ins Leere laufen zu lassen. Allerdings: das kritische Potential, das diese Musik enthält, ist, mit Ausnahme des unbeirrbaren Eric M., bescheiden, weil zuviele Absichten durchschimmern. So offen und anregend das alles ist, so angenehm und harmlos scheint es in der Langzeitwirkung. Das ist aber vielleicht auch gut so, denn es entkrampft die Begegnung mit der Musikgeschichte, will man sich denn auf diesem vermittelten Wege mit ihr beschäftigen. Wenn es stimmt, das Pop der Ort ist, wo alles in Spass oder Mode umschlägt, dann haben wir hier zwei weitere, äusserst elaborierte Varianten aktueller Unterhaltungsmusik. Im grossen farbigen Nebeneinander, das schon lange das langweilige Gegeneinander abgelöst hat, bieten sie Stoff für einige Gedanken. "Vertrete deine Dogmen relativistisch und deinen Relativismus dogmatisch", empfiehlt die eingangs erwähnte Zeitschriftenreihe. Das passt nicht schlecht zu einer Musik, die einerseits pausenlos Bedeutung schafft, andererseits als Rohstoff für den Dancefloor einem sympathisch profanen Verwendungszweck dient und inzwischen die höchsten Ebenen des Recycling erreicht hat.