Peter Kraut

Rauschen im White Cube

Nach dem Einzug von Fotografie, Film, Video und Computer ins Museum kann man dort zunehmend klingende Objekte und Sounds hören oder spaziert durch Klanglandschaften. Der Trend zur Verschmelzung verschiedener Medien und Formate geht damit weiter, wie aktuelle Ausstellungen zeigen.

Wenn heute im Museum vermehrt Klänge zu hören sind und mitunter solche, die den Partygängern ziemlich vertraut sind, ist es dann so, wie der Kunsthistoriker Beat Wyss behauptet? "Die Intellektuellen kamen immer zu spät, wenn sie zum 'Diskurs' erhoben, was in Politik, Ökonomie und Wissenschaft schon zur Tagesordnung gehörte." Biedern sich die grossen Museen neuerdings mit poplastiger Klangkunst beim jungen Publikum an? Oder ist es vielmehr ein Gewinn, endlich in Ruhe und in anspruchsvoller ästhetischer Präsentation Klängen zu lauschen und sich der "Erforschung von Klang als kommunikativem Werkzeug" zu widmen, wie es der Katalog zur Ausstellung "Frequenzen" in der Frankfurter Schirn nahe legt?

Die Beispiele der letzten Jahre tragen deutliche Titel: "Sonic Process – A new Geography of Sounds" (Barcelona / Paris), "Sonic Boom – The Art of Sound" (London), "Frequenzen [Hz] – Audiovisuelle Räume" (Frankfurt), "Remix – Contemporary Art & Pop" (Liverpool), "Retake – Wiederaufnahme" (Aachen) hiessen und heissen die Ausstellungen, die Grundsätzliches zum Thema behaupten. Dabei sind die Zugänge verschieden, letztlich flirten aber alle mit dem Glamour der Popwelt. Der britische Journalist und Musiker David Toop war mit "Sonic Boom" in der Londoner Hayward Gallery einer der ersten, der dieses weite Feld im Museum vorstellte. Toop legte das Schwergewicht auf Klangskulpturen. Das war zwar museumsgerecht, nur war das akustische Material oft simpel, die häufigen mechanischen Zusammenhänge zwischen Bewegung und Klang schnell erschlossen. Anders die kürzlich zu Ende gegangene Ausstellung "Frequenzen" in der Frankfurter Schirn – hier wähnte man sich eher in einem durchgestylten Technopark mit attraktivem Rahmenprogramm. "Sonic Process", zu sehen in Barcelona (MACBA) und Paris (Centre Georges Pompidou), versucht insofern einen Kompromiss, als viele Räume zu Klangräumen ausgestattet wurden, in denen differenzierte Hörerlebnisse möglich sind. Allerdings richtet sich diese Ausstellung bewusst an die jugendliche Besucherschaft, und so prägen spielerisch-unterhaltsame Aspekte und Markenartikel die Szenerie. Wieder anders präsentierte sich das Thema in Aachen, wo die Bildwelten des Pop in ihrem Niederschlag in der aktuellen Kunst präsentiert wurden.

Produktive Irritation

Sicher herrscht ein schwieriges Verhältnis zwischen den beiden globalisierten Systemen (Pop-)Musik und Kunst. Beide sind bis an den Rand gesättigt, stehen unter Innovationsdruck, müssen das eigene Geschäft am Laufen halten und haben schon fast jeden erdenklichen Tabubruch kommerzialisiert. Trotz aller Unterschiede in Produktion, Vertrieb und Konsum können sie aber voneinander profitieren: Das Museum erschliesst sich neue Fragestellungen und Publikumsschichten, und Musikerinnen und Musiker sehen ihre Werke durch die Kunstinstitutionen nobilitiert. Trotzdem stehen einige strukturelle Probleme im Wege, denn zwei traditionelle Konsum- und Präsentationsmuster konkurrenzieren sich. Musik spricht via Tonträger und private Verbreitung potentiell ein Massenpublikum an, sie findet in Echtzeit statt – ein Massstab, dem sich alle unterziehen müssen Die kollektiv erlebte Zeit im Konzert, der magische Moment prägen die Erinnerung an das Gehörte, und nur aus der Erinnerung kann die Musik analysiert werden. Dagegen findet die Kunst vorwiegend im geschützten Rahmen von Museen, Galerien und an Messen statt. Die Mehrzahl der Werke bildender Kunst ist statisch und kann mit dem eigenen Zeitbudget vor Ort betrachtet und diskutiert werden. Dieser Gegensatz von Vergänglichkeit und Statik wird nun seit dem Einzug der bewegten Bilder und Klänge ins Museum durcheinandergewirbelt. Videokunst oder Klangskulpturen beispielsweise entfalten ihre Wirkung ebenfalls in der Zeit, die sie strukturieren, werden aber oft wie traditionelle Kunstwerke betrachtet. So kommt es zur Überlagerung der beiden Rezeptionsweisen. Trifft man also auf eine akustische Arbeit, eine Filmprojektion oder ähnliche temporale Erscheinungen, ist man sozusagen gleichzeitig im Museum und im Konzert und oft unsicher, welche Wahrnehmungsstrategie man wählen soll – eine Verunsicherung, die so produktiv wie irritierend ist.

Neue Räume?

Die erwähnten Ausstellungen haben gezeigt, dass diesen Umständen schwierig Rechnung zu tragen ist, und sei es nur aus dem Grund, dass das Thema oft enorme Ansprüche an die Raumakustik und Ausstellungstechnik stellt. Beispiele, wo sich die beiden Konzepte – fixe Installation und Zeitereignisse – zum Vorteil beider überlagern, sind rar. Zu oft wird mit akustischen Phänomenen nicht mehr gemacht, als sie von der Laborsituation des Studios ins Museum zu übertragen, wo sie mitunter an Physikunterricht erinnern. Andererseits fehlt bildenden Künstlern zuweilen die Erfahrung im Umgang mit Klangmaterial. So erlebt man häufig unbefriedigende Situationen: sorgfältige Klänge, die schlecht präsentiert werden oder sorgfältige Installationen, die relativ unbedeutendes akustisches Material abgeben. Ein Erfahrungswert lässt sich dennoch festhalten: Meist hinterlassen Musiker, die mit ihren Werken ins Museum gehen, bescheidenere Eindrücke als Künstler, die sich dem Klang widmen, weil letztere mehr Erfahrung mit der Raumwirkung von Objekten haben. Beeindruckend sind Exponate aber dort, wo sie unwiederholbare Erlebnisse ermöglichen, beispielsweise gänzlich neue Raumerfahrungen. Ryoji Ikeda hat in der Frankfurter Ausstellung einen Tunnel konstruiert, wo mit hochfrequenten Tönen, Laser und Stroboskoplicht das Raum- und Orientierungsgefühl durcheinandergerät; Janet Cardiff spielt mit Miniatur-Nachbildungen von Kinos oder sogenannten Audiowalks virtuos mit den akustischen Merkmalen von Aussen- und Innenräumen, mit der Nicht-Identität von akustischer und räumlicher Information. Eine weitere Erfahrung: im Videoclip verdichten und ergänzen sich die beiden Sehens- und Hörensweisen von Kunst und Musik aufs Beste. Das zeitlich limitierte Format kommt dem kunsterfahrenen Betrachter und Hörer entgegen, und die technischen Herausforderungen lassen sich in der Regel meistern. Christian Marclays Road- und Lynchmovie einer Gitarre, Anri Salas akustische Simulation eines Fliegerangriffs oder die vielen formal-ästhetischen Anordnungen von Farben, Flächen, Mustern, Frequenzen, Klängen und Rhyhthmen, wie sie etwa Carsten Nicolai oder Darius Krzeczeck schaffen, sind herausragende Beispiele. Sie weisen jeweils über das eigene Medium hinaus und bedürfen zu ihrer optimalen Entfaltung den Rahmen eines Kunsthauses. Trotzdem hat Klangkunst eine starke Tradition ausserhalb des Museums, im Aussenraum. "Sonambiente – Festival für Hören und Sehen" hiess die Berliner Ausstellung von 1996, wo die Beiträge vorwiegend an den öffentlichen Originalschauplätzen, für die sie geschaffen wurden, zu erleben waren. Damit griffen die Werke direkt in die Alltagserfahrung des Publikums ein, da sie im Kontrast zur natürlich akustischen Umgebung auftraten.


Attraktive Doppeldeutigkeit

Im Lichte dieser Erfahrungen lässt sich auch ein neuer Blick auf die experimentelle Popmusik werfen. Sie hat durch ihre Aufwertung im Rahmen des Kunstsystems eine attraktive Doppeldeutigkeit gewonnen, da sie bei einem Abstraktionsgrad angelangt ist, der sie ebenso als Gebrauchsmusik auf dem Dancefloor wie als existenzialistisches Signal im white cube auszeichnet. Im Club legitimiert sich der Stil als die kunstvolle Essenz einer andernorts vollends kommerzialisierten Massenmusik. Im Museum dagegen sind abstrakte Klänge als gefügige akustische Zeichen interpretierbar (und damit wird an eine alte Kunsttradition angeknüpft, die sich durch den uneigentlichen Gebrauch aktueller Technologie zu ästhetischen Zwecken ausweist). Mit der Abstraktion und Technisierung elektronischer Musik sind aber nicht nur deren Mobilität, Interpretationsangebot und wissenschaftlicher Begleitapparat gewachsen, sondern auch die Sprache hat sich verändert: Seltsame Geräusche, die Grenzen des Hörbaren, neue Hörräume oder radikale klangästhetische Erfahrungen sind schwierig in Worte zu fassen. Wo neue Klänge, Klangobjekte und Hörsituationen geschildert werden sollen und adäquate Begriffe fehlen, ist offensichtlich eine Definitionslücke vorhanden – ideales Terrain also, um mit dem System Kunst das Defizit zu füllen und über Schnittstellen nachzudenken, die sich aus dem Zusammentreffen der (Alltags-) Welt des Pop, der Architektur, digitaler Technologie und bildender Kunst ergeben. Dass dabei die Grenzen zwischen traditionellem Kunstkonsum, Konzert, Lounge-Feeling oder Party (keine Vernissage ohne DJ!) fliessend werden, liegt auf der Hand. Im Zuge dieser Entwicklung ist es klar, dass vermehrt Klänge im Kunstkontext geformt und konsumiert werden und sich die verschiedenen Medien immer mehr und mit Gewinn gegeneinander ausdifferenzieren. Aber nicht nur das – auch die Rolle des Publikums wird mehrdeutig. Der Poptheoretiker Christian Höller meint, heute erlebe man Pop (und dazu gehört auch der Teil der Kunst, der hier andockt) nicht mehr als "Politik der Repräsentation", sondern als "Politik der Erfahrung". Die entscheidende Frage hiesse also nicht: "Was bedeutet es?", sondern: "War ich dabei?". Wenn nun Kunst und Musik zusammenspannen und im Zeichen der Event-Kultur vermehrt gruppenidentitätsstiftende Momente zur Verfügung stellen, stehen sie genau in diesem Trend.

Peter Kraut, August 2002