Daniel Kurjakovic
Traveling without moving
Katalogtext zur einer Ausstellung mit Arbeiten von Marie José
Burki, Jos Näpflin, Julian Opie und Vittorio Santoro in der Galerie
Friedrich Bern. Bis 17. Juli 98
Der Blick gleitet von oben herab in eine Konstellation miniaturisierter,
schematisch wiedergegebener Gebäude. Fünf unterschiedliche, blau
oder braun bemalte Objekte aus Gips bilden einen in sich definierten Bereich,
so dass der Umraum der Galerie zeitweise ausgeblendet wird und sich umgekehrt
in der Vorstellung dehnt, imaginär vergrössert. Imagine you are
landing (Bungalows and water-tower) von Julian Opie erinnert an Gebäude,
die durch die eigene Anschauung vertraut sein mögen oder durch mediale
Bilder vermittelt sind. Doch das Werk bezieht sich nicht nur auf mentale
Bilder (ein Imaginäres) oder eine bestimmte architektonische Gattung
wie etwa aus halbindustriellen Gebieten Norditaliens stammende Gebäude
(ein Konzept); dadurch dass das Werk den Raum mit den Betrachtern teilt,
ist es auch konkret (ein Erfahrungsgegenstand). Letztlich auf keine der
drei Bereiche reduzierbar, hält Imagine you are landing die Wahrnehmung
in Gang: weder im Imaginären noch im Konzept oder in der Erfahrung
erschöpft sie sich. Vielmehr gewinnt sie Präsenz durch die Art,
wie der Vorstellungsraum, der mentale Raum und der Realraum jeweils in den
Vordergrund treten, sich überschneiden und überblenden oder auseinanderklaffen
können.
Wendet man sich um, steigt der Blick an zu Untitled (Two identical speakers,
two similar outputs, differed in time: 4 seconds) von Vittorio Santoro.
Zwei Fotografien, die eine schwarz-weiss, die andere blass-farbig, zeigen
vor der Ecke eines unbestimmten Raumes je zwei Lautsprecher, die von teilweise
ineinander verschlungenen Kabeln umspielt, eingefasst und verbunden werden.
Von links fällt Licht ein. Die stereometrische Form der Lautsprecher
scheint den architektonischen Raum mit dessen vorstehender Ecke zu spiegeln
und löst so komplexe Beziehungen und Gegenbeziehungen aus. Nur die
Lautsprecher selbst treten klar hervor; Hintergrund und Vordergrund sind
in eine suggestive Unschärfe getaucht, die sich am unteren Bildrand
durch die Verzerrung der Aufnahme in den Betrachteraum zu wölben scheint.
Die anfängliche, scheinbare Identität der Lautsprecher in beiden
Tafeln erweist sich bald als subversive Ähnlichkeit ihrer relativen
Position, und allmählich führen die unterschiedlichen Blickwinkel,
Distanzen und Höhen zu einer Ausdifferenzierung, in der Zeit sich verräumlicht
und Raum verzeitlicht. Der Untertitel Two identical speakers, two similar
outputs, differed in time: 4 seconds bildet eine sprachliche Parallele dazu,
die selbst die allmähliche Verschiebung in der Wahrnehmung von Identität
zu Ähnlichkeit sowie die damit verbundene, zeitliche Verzögerung
zur Sprache bringt. Der Untertitel erweitert das Bild um die Dimension des
Hörbaren - den auditiven Raum -, die mit dem Erfahrungsgegenstand
'Lautsprecher' zwar unweigerlich assoziiert wird, aber zugleich vieldeutig
bleibt (welches ist die Quelle des Hörbaren? welches sein Wesen?).
Damit vergleichbar ruft auch Landscape verschiedene Räume oder Bezugsrahmen
im Wahrnehmungsakt auf. Frontal und in leichter Verzerrung aufgenommen,
stehen die drei Bildobjekte für unterschiedliche Bildkodes: ein Souvenir
mit der fotografischen, miniaturisierten Ansicht einer Stadt, ein gemaltes
Liebes-Szenario und ein in der Sprache der Abstraktion gestalteter Holzschnitt
mit Landschaft. Die drei Bilder stecken somit einen gewissen Repräsentationsraum
ab - durch ihre dargestellten Welten sowie die geschichtlich-gesellschaftlichen
Bedeutungszusammenhänge des jeweiligen Kodes. Dies geschieht aber nicht
abstrakt bzw. diskursiv, denn die Plazierung der drei Bildobjekte auf der
Wand, die unterschiedlichen Maßstäbe, die leichte Wölbung
der fotografierten Wand sowie der durch einen angeschnittenen Türrahmen
erkennbare Innenraum resultieren in einer Wahrnehmung, die den von der
Fotografie dargestellten Raum mit dem durch die Bildobjekte wiedergegebenen
Repräsentationsraum überblendet und zugleich voneinander abhebt.
Der Raum, in dem die Bildobjekte sich befinden, ist angetönt, nicht
aber bestimmt, so dass der Titel Landscape seine Wirkung entfalten kann:
mit seiner distanzierenden Wirkung befreit er vom starren Blick aufs buchstäblich
Vorhandene, indem er einen vorgestellten Raum ins Spiel bringt.
Es ist möglich, dass der Blick im nächsten Augenblick nach
oben schwenkt zur scheinbar schwebenden Arbeit 59, Imitation Gold (Leuchtet)
von Jos Näpflin. Das Werk gleicht einem Drip-Painting, einem gestischen
Formenkomplex mit Tropfspuren. Nähert man sich dessen Bändern,
die sich überkreuzen, miteinander verschmelzen und oben auseinanderstreben,
realisiert man, dass das Werk aus Folie besteht, die auf der Wand klebt
- womit eine angenommene Identität unterhöhlt ist, was schon
im Titel zum Ausdruck kommt (Imitation). Die momentane Entzauberung der
räumlich wirkenden Konfiguration zur ausgeschnittenen, flachen Folie
führt allerdings nicht zur Verbuchstäblichung der Arbeit. Denn
ihr wohnt die Spannung zwischen den Detailansichten und dem Gesamtbild inne,
eine Bewegung, die von der wechselnden Position der Betrachter im Raum und
den veränderlichen Lichtverhältnissen des Raumes aufrechterhalten
wird. Gespiegeltes Licht rückt den senfgelben Farbwert der Folie in
die Nähe von schimmerndem Gold oder löscht den Farbwert
gänzlich aus. Von nahe sind mechanisch ausgesparte Bereiche in 59,
Imitation Gold (Leuchtet) kenntlich, als hätte die temporäre Neutralisierung
von Farbe durch das Licht eine buchstäbliche Abbildung gefunden. Dies
ist darauf zurückzuführen, dass das Werk in einer Phase der Genese
aus der Fotografie eines tatsächlichen Drip-Paintings bestand, deren
Bildinformationen anschliessend digitalisiert wurden, wobei Lichtreflexe
als leerer, negativer Raum aufgezeichnet wurden. Im Wahrnehmungsakt ist
nun teilweise zwischen mechanischen und durch das tatsächliche Licht
bedingten Leerstellen bzw. "Löchern" im Gesichtsfeld nicht
mehr zu unterscheiden. So eignet dem Werk nicht nur eine räumliche
Ambivalenz (schwebend oder flach?), auch sein Grad an Wirklichkeit bleibt
unentscheidbar (faktisch oder eingebildet?). Der Gegenstandsbezug des Werks,
mal Feuerwerk, mal Kronleuchter oder eben Drip-Painting, rückt in diesem
Zusammenhang in Perspektive, lässt es doch das Geplänkel reiner
Täuschung oder Simulation hinter sich. Das Werk ruft wohl einen gewissen
Erfahrungszusammenhang auf, aber idiosynkratischen Erwartungen oder gar
absoluten Zuschreibungen wird der Boden entzogen, damit für die Betrachter
die Möglichkeit gewahrt bleibt, einen Raum zwischen mentalem Bild,
konkreter Erfahrung und Vorstellung zu schaffen.
Vielleicht sollte ich hervorheben, dass die gegenständlichen Ensembles
der verschiedenen Werke in Traveling without moving nicht ästhetischer
Endzweck sind, sondern als Verfahren dienen, um bestimmte Phänomenbereiche
zu aktivieren, die Aufmerksamkeit auf sie zu lenken und die damit einhergehenden
konventionellen Verstehensweisen auf den Prüfstand zu heben sowie potentielle
Bedeutungsebenen freizustellen. Nicht die Tatsache ist ausschlaggebend,
dass erkennbare, vertraute Bilder verwendet werden, sondern die Art und
Weise, wie Gegenständlichkeit in den Werken operiert: Der Aufweis des
Gegenstandbereichs ist nämlich zugleich mit dessen Distanzierung -
Verfremdung, Potentialisierung - verbunden. Nicht die pure Faktizität
des Gegenstandes interessiert, was das auch immer sein möge, sondern
jener Schwellenbereich, in dem das Element eines vermeintlich vertrauten
und bekannten Phänomenbereichs überhaupt erst erkennbar wird,
in dem sich die Beschränkung auf einen konventionellen, normierten
Erfahrungszusammenhang auflöst, und der imaginative Zugriff durch die
Betrachter auf den Plan gerufen wird. Wohlverstanden: Nicht die Realität
der Gegenstände oder Phänomenbereiche wird ausgeblendet. Vielmehr
tritt deren konventionelle Interpretation in den Hintergrund zurück;
damit verbundene Kodes werden relativiert, Kodes, welche die Wahrnehmung,
die Erinnerung und letztlich die Verhaltensweisen zu beherrschen drohen.
Sie lassen das Inviduum eine veränderliche und im Fluss begriffene
Gegenwart im voraus in Vergangenheit umwandeln, wenn es die Gegenwart mit
obsoleten Kriterien beurteilt. Anstelle der Zersplitterung der Existenz,
ihrer Aufteilung in die getrennten Bereiche der empirischen Erfahrung, des
konzeptuellen Wissens und der Vorstellung treten individuelle, aber nicht
idiosynkratische "Erzählungen", die sich in der Ausstellung
modellhaft an einem breiteren historischen und kulturellen Erzählfluss
nähren, und die die Arbeiten speisen. Der buchstäbliche Raum der
Ausstellung ist eine Bedingung dafür, denn damit Erzählungen Dichte
erlangen, ist räumliche Nachbarschaft vonnöten: das Verweisspiel
der Arbeiten, die Spiegelung etwa von Details des einen Werks in der allgemeinen
Struktur des anderen, die Übertragung von Merkmalen einer ersten Arbeit
in die zweite, kurz: Überkreuzungen und Echos. Dass der architektonische
Raum einer Galerie mit seiner Raumfolge dabei umgedeutet wird, also benützt
und auf potentielle Verschiebungen untersucht, bald verstärkt, bald
zurückgenommen wird, folgt konsequent daraus. Ausserdem entstehen Erzählungen
im gedanklichen Raum, der gleichberechtigt neben dem buchstäblichen
Raum - dem Realraum - präsent ist, wenn die welterschliessenden
und wirklichkeitskritischen Impulse der Werke vergegenwärtigt werden.
Erzählungen schaffen anstelle der Trennung von Erlebtem, Wahrgenommenem
und Gedachtem Kontinuität zwischen Erfahrung, Wissen und Vorstellung.
Die fotografischen Arbeiten von Marie José Burki sind eine weitere
Instanz dieser Logik von Welterschliessung und Wirklichkeitskritik. Das
Werk o.T. (Bruxelles) einer zweiteiligen Fotoarbeit zeigt einen in abendliches
Streiflicht gehüllten Wohnblock in Bruxelles, dessen Fassade dramatisch
beleuchtet wird, während das räumliche Umfeld in dunkle Zonen
gehüllt und nur schemenhaft erkennbar ist. Das Licht vereinheitlicht
die Fassade, und deren architektonische Details werden abgeschwächt.
Die Wahrnehmung blendet die realen drei Dimensionen des Gebäudes zugunsten
der durchs Licht betonten Zweidimensionalität aus, macht sie in anderen
Worten zum Bild eines lebensweltlichen Phänomens (der Wohnblock), was
die modernistische Einheitlichkeit des Baues noch unterstützt. Das
Bild suspendiert also das lebensweltliche Objekt, die reale Architektur.
So gleicht die Fotografie, wie man sagen könnte, einem Zeichen, das
nicht identisch ist mit dem, worauf es verweist, noch aufgehoben wird in
den Assoziationen, die es auslöst, den Erinnerungen, die es aufruft
oder den Vorstellungen, die es entstehen lässt. Der reale Bau erscheint
aus diesem Grund eher als Modell von Architektur oder - allgemeiner
- eines Erfahrungsgegenstands, auch deshalb weil die dargestellten Grössenverhältnisse,
die diesbezügliche Kodierung des Wohnblocks im urbanen Raum, nicht
aus der Fotografie ableitbar sind - ähnlich wie übrigens auch
in Untitled (Two identical) von Vittorio Santoro, wo die Grössenverhältnisse
von Lautsprechern und Umraum unbestimmt bleiben. Der Gegenstand von o.T.
(Bruxelles) ermöglicht zwar einen unmittelbaren Bezug der Betrachter
zur Arbeit, problematisiert aber zugleich die Bedingungen des Erkennens,
den Modus der Erfahrung und der kategorialen Zuschreibung bzw. der semantischen
Identität.
An welchem Punkt steht man folglich? Hat man erst einmal einige Schritte
in Richtung sich verschränkender Räume und überkreuzender
Zeitebenen getan, drängt sich eine weitere Konsequenz bezüglich
des Gegenstandsbezugs auf, was nicht mit dem klassischen Topos der Figuration
verwechselt werden sollte, da Lebenswelt hier hierarchisch ihrer Transzendierung
unterworfen ist. 'Gegenstandsbezug' ist andererseits auch nicht nur Reproduktion
von Lebenswelt, heisst nicht einfach, dass die Existenz eines vertrauten
Phänomenbereichs, eines erkennbaren Gegenstands lediglich bestätigt
wird. Die Betonung liegt auf der Art und Weise des Bezugs, nämlich
auf der Tatsache, dass der Bezug selbst problematisiert wird, womit es sich
um eine phänomenologische Problematik mit den entsprechenden Fragen
handelt: Wie schreibt sich ein Phänomen dem Bewusstsein ein? Was kann
überhaupt als Gegenstand des Bewusstseins gelten?
Der Blick auf Systemoid: Mirror von Jos Näpflin lohnt in dieser
Hinsicht. Das Werk besteht aus doppelseitig klebender, transparenter Folie,
die die Wand des einen schmalen, länglichen Raumes der Galerie in vier
Bahnen von einem Meter Breite und einer etwas schmaleren Bahn an einem Raumende
bedeckt, wobei ein schmaler Schlitz zwischen den Bahnen freisteht. Durch
den direkten Auftrag auf der Trägerwand gibt die Folie die Struktur
der Wand mit ihren Unebenheiten wieder. Die reflektierende Folie wirft das
Bild des Umraums diffus zurück; das Grün des Gartens, der Rahmen
der Balkontüre und das Licht wechselnder Witterungsverhältnisse
bilden sich in den Innenraum ab, manchmal mit einer beinahe illusionistischen
Brillanz, manchmal kaum wahrnehmbar. Allerdings sind Gespiegeltes und Spiegelung
nicht einfach austauschbar oder komplementär, sie werfen sich nicht
ein identisches Bild zu, sondern schaffen sozusagen einen Wahrnehmungsraum
zwischen zwei Repräsentationen, zwei Ordnungen des Sichtbaren. Zudem
wird die Trägerwand selbst umgedeutet; an einigen Stellen wirken die
schmalen Zwischenräume wie tatsächlich in die Wand gehauene Fugen
oder Spalten. Da die dünne, transparente Folie am oberen und unteren
Ende mit den Nahtstellen der Architektur zusammenfällt, scheint sie
sich ansatzlos in der Lotrechten auszudehnen, wodurch eindeutige Rückschlüsse
auf die Materialität der glänzenden, spiegelnden Oberfläche
erschwert werden und sich Vermutungen und Assoziationen einstellen (handelt
es sich um Lack? um eine drei- oder zweidimensionale Arbeit?). Auch noch
dies: Ist einmal klar, dass die Oberfläche klebend ist, gewinnt das
Werk einen zusätzlichen Aspekt, insofern die Folie Staubpartikel an
sich bindet und Spuren von Berührungen durch Betrachter registriert.
Der Staub selbst wird durch die Betrachter mitgeführt, durch die Begehung
im Raum deponiert, so dass die Betrachter nicht nur mit dem Blick (und seiner
konstitutiven Distanz und Unkörperlichkeit) an der Arbeit teilnehmen,
sondern sich ihr buchstäblich einschreiben.
File 1 von Vittorio Santoro führt die buchstäbliche Teilnahme
der Betrachter am Werk noch einen Schritt weiter. Das Werk besteht aus acht
Hängemappen, von denen sechs mit krude ausgeschnittenen Bildern oder
aus Zeitungen und Zeitschriften herausgetrennten Seiten bestückt sind,
und die in handelsüblichen Varioboxen stecken. Sechs Mappen sind etikettiert:
"Deception", "Structure", "Happiness/Instructions",
"Time Table", "Home", "Naked Lunch". Meist
sind die Inhalte der Mappen heterogen, manchmal aber auch einheitlich, so
wenn etwa in "Deception" einige wenige Zeitungsausschnitte von
Handys versammelt sind. Die Beziehung zwischen der Sprache (Etikett) und
den Bildmaterialien (Mappeninhalt) ist offensichtlich bestimmt, scheint
aber nicht aufgrund eines idiosynkratischen Kriteriums definiert. Vielmehr
herrschen zwischen Sprache und Bildmaterial verschiedene Arten der Kombination
und verschiedene Grade des Zusammenspiels (von Deckung bis zu Divergenz).
Santoro hat kein apriorisches Verhältnis zwischen der Sprache und dem
Bild festgesetzt. Im Gegenteil: Oft distanziert die sprachliche Bezeichnung
vom Bildmaterial und befreit es aus einem präetablierten Kontext von
Bedeutung, eine Wirkung, die sich verdichtet, je länger man in den
Mappen blättert. So wird im Sprachlichen sowie im Visuellen das Potentielle
oder Unterdrückte an Bedeutung sei es traumähnlich oder
politisch enthüllt, das sonst in einer kodierten Relation bereits
eingegrenzt und semantisch vereindeutlicht vorliegt (wofür die Printmedien
mit ihrer Verkettung von Bild und Legende ein Beispiel abgeben). Ähnlich
hatte schon die Sprache im Titel von Julian Opies Imagine you are landing
(Bungalows and water-tower) von einer Wahrnehmung der Arbeit als blosse
Dinge im Realraum oder verkleinerte Muster einer gewissen Architektur befreit.
Um auf File 1 zurückzukommen: Man kann das Werk um Hängemappen
erweitern oder das Bildmaterial umorganisieren, was lediglich konsequent
daraus folgt, dass die Re-Kontextualisierung der sprachlich-visuellen Elemente
und die imaginative Erweiterung dem Werk als Prinzip bereits mitgegeben
sind.
Traveling without moving setzt spezifische Arbeiten von Marie José
Burki, Jos Näpflin, Julian Opie und Vittorio Santoro in Bezug, weil
sie sich mindestens bezüglich des Gegenstandsbezugs - sozusagen
strukturell - vergleichen lassen. Ihr Gegenstandsbezug ist nicht Endzweck,
sondern ein Verfahren für die Wahrnehmung, um jenseits absoluter Gegensätze
wie Sprache vs. Bild, Realraum vs. Vorstellungsraum, Gegenstand vs. Bewusstsein
zu reichen. In Systemoid: Country von Jos Näpflin hängt ein ratternder
Filmprojektor an der Wand und bannt das Bild sich türmender Wolken
im Zeitraffer auf den Boden. Die Endlosschlaufe fällt ins Bild und
kringelt am Boden, wo sie ihren bandartigen Schatten auf den projizierten
illusionistischen Himmelsraum wirft, wobei der verzerrte, flackernde Schatten
eine eigene Präsenz gewinnt - sich teilweise wie ein Sandsturm
gerierend. Die Realzeit der Filmspule, die den bewegten Himmel unablässig
aufleuchten lässt, wird dabei mit der gerafften Zeit der Projektion
kontrastiert; ebenso wird das Rattern des Projektors - gleichsam eine
graue, zum Kubus erstarrte Wolke - mit dem stillen Wallen der Wolken
vermählt. Das Werk führt somit eine Endlosigkeit vor, die sich
permanent verändert. Zeit ist dem Werk auch durch den Staub eingeschrieben,
den die Filmspule fürs menschliche Auge unsichtbar ins Projektoreninnere
transportiert, von wo er ins Bild zurückprojiziert wird - gleich
einem Repoussoir aus fein zitternden Gräsern und Geäst. Während
schliesslich Marie José Burki in ihrer fünfteiligen Serie von
Fotografien aus New York mit filmischer Erzählzeit spielt, ohne uns
eine andere Erzählung als jene von neutralen Orten, Passanten oder
stehenden, in die Ferne blickenden Menschen sowie von unseren eigenen Projektionen
zu geben, erzählt Systemoid: Country von der Reise durch eine Landschaft,
wo keine Zeit die letzte ist, denn Zeit ist, was dauert ohne sich zu wiederholen.
Es ist eine Zeit, die immer wieder in eine andere Phase springt, in einen
anderen Rhythmus, in eine andere Dimension, und die Welt, die sich hierbei
bildet, der gedankliche Raum, der dadurch erzeugt wird, dafür steht
Traveling without moving.
© Daniel Kurjakovic, 1998
Nachbemerkung:
Traveling without moving ist der Titel einer von Daniel Kurjakovic kuratierten
Ausstellung mit Werken von Marie José Burki (1961), Jos Näpflin
(1950), Julian Opie (1958) und Vittorio Santoro (1962). Die Ausstellung
in der Galerie Friedrich dauert vom 8. Mai bis zum 17. Juli 1998. Es ist
die sechste Ausstellung in der von der Galerie Friedrich veranstalteten
Reihe Gäste/guests. Für weitere Fragen wenden Sie sich bitte an
die Galerie, wo auch der Katalog zur Ausstellung mit dem obigen Text und
mit s/w-Abbildungen zu sFr. 10.- zu beziehen ist.
Daniel Kurjakovic ist Kunsthistoriker, Kunstkritiker, Verleger ( Verlag
MEMORY/CAGE EDITIONS) und Schriftsteller. Er lebt und arbeitet in Zürich.
Für Fragen oder Kommentare benützen Sie bitte die E-Mail-Adresse
von Daniel Kurjakovic: memorycageeditions@bluewin.ch.
Anfangs September 1998 erscheint sein Prosaband "Lido/Lido".