Roman Kurzmeyer

Orte der Malerei, fern



Die Kunstgeschichte der Moderne kann als ein Prozess der zunehmenden Konzeptualisierung verstanden und dargestellt werden, und somit als eine Veränderung, die systemimmanent verläuft und unabgeschlossen ist. Im Schatten der Avantgardebewegungen entstehen auch Werke, viele lange unbemerkt, die ihre Wirkung nur bedingt einer formalen Innovation sondern vor allem der individuellen Bildfindung verdanken. Arbeiten, die in Kenntnis der Geschichte der künstlerischen Moderne geschaffen werden, aber nicht dem Prinzip der Neuheit folgen. Die Rationalisierung der Verfahren und damit die historisch bewusste Anwendung der künstlerischen Mittel stehen dabei nicht im Zentrum der künstlerischen Arbeit. Wirkung und Bedeutung dieser Werke, die der Moderne erst ihre spezifischen, von Region zu Region verschiedenen Züge verleihen, liegen im Ausdruck und gehen aus von der Bilderzählung, von ihrem visuellen Eigensinn.

Von Werken dieser zweiten Art handeln die folgenden Überlegungen zum künstlerischen Schaffen Urs Aeschbachs, an deren Anfang ich die Besprechung einer Folge von Fotografien des Künstlers stelle, die seit 1992 publiziert vorliegen. Er schickt ihnen als Titel ein Wort Le Corbusiers voraus: „La construction, c’est pour faire tenir; l’architecture, pour émouvoir“. Die Publikation erscheint nach einem längeren Aufenthalt am Istituto svizzero in Rom. Urs Aeschbachs 24 Fotografien sind in Aussenquartieren und Vororten der Stadt entstanden und zeigen Bauruinen. Es sind Aufnahmen von unvollendeten Bauten. Es handelt sich vor allem um Einfamilien- und kleine Mehrfamilienhäuser im Rohbau. Die Bauarbeiten scheinen in den meisten Fällen schon geraume Zeit vor der Aufnahme eingestellt worden zu sein. Abfall liegt herum, die Baustellen verwildern. Aus einer Stadt, deren Ortsbild durch zahllose antike Ruinen bestimmt ist, die von den Romreisenden ihrer kulturellen Bedeutung wegen aufgesucht und betrachtet werden, kehrt der Künstler in die Schweiz zurück mit einer Dokumentation neuer, zeitgenössischer Ruinen, die meistens unbeachtet bleiben. Im Unterschied zu den seriellen, professionellen Aufnahmen alter Industrieanlagen von Bernd und Hilla Becher, die sich seit den sechziger Jahren aus einer zeitgenössischen künstlerischen Haltung heraus mit der Ästhetik und der Symbolik des industriellen Zeitalters befassen, bezeugen diese stillen, menschenleeren Bilder alltäglichen Scheiterns kleiner Leute vor allem verlorene Träume und uneingelöste Versprechen.

Urs Aeschbach hat in diesem Heft mit seinen Fotografien aus Rom kein einziges seiner Gemälde abgebildet. Ein Vergleich der Fotografien mit der Malerei jener Jahre aber zeigt, dass er wie heute noch schon damals die Fotografie in die Konzeption seiner Bilder miteinbezogen hat. Dies allein ist keineswegs ungewöhnlich, dienen doch fotografische Bilder in den Künstlerateliers seit der Entdeckung der Fotografie als Vorlagen, Stimulans oder Skizzenersatz, lange bevor die Fotografie als ein eigenes künstlerisches Medium neben Malerei, Zeichnung und Skulptur tritt. Vor ihrer Entdeckung holen sich die Künstler visuelle Informationen über die Welt und die Kunst mittels Druckgraphiken in ihr Atelier. Seit dem 20. Jahrhundert wird die fotografierte und technisch vielfach reproduzierte Welt von vielen Künstlern, um mit Walter Benjamin zu sprechen, als „Natur zweiten Grades“ wahrgenommen, nach der und mit der sie arbeiten.

Jede Zeit bringt sowohl Künstler hervor, deren Werke Ausdruck einsamer Erfahrungen sind, als auch solche, die bewusst aufgreifen und anwenden, was ihr Umfeld an Formvorschlägen und Themen anbietet. Der deutsche Künstler Gerhard Richter, mit dessen Werk sich Aeschbach als junger Maler intensiv auseinandersetzt, nimmt in dieser Hinsicht in der Nachkriegskunst eine beispielhafte Stellung ein. Nicht nur, weil er die Sujets für seine Gemälde der Welt der Reproduktionen entnimmt und mit seinem in den sechziger Jahren zusammengestellten Bilderatlas aus Amateurfotos, Zeitungs- und Werbefotografien eine persönliche Auswahl und Ordnung zur Diskussion stellt, sondern vor allem auch wegen dem indifferenten Nebeneinander von abstrakten und gegenständlichen Bildern. Die Kunstkritik reagiert auf dieses Doppelspiel nicht nur mit Ablehnung, wie dies zu erwarten war, sondern auch mit Interesse und Zuspruch, will sie doch in Richters künstlerischem Verfahren eine Absage an jede Form von Orthodoxie erkennen.

In den Architekturbildern der späten achtziger und frühen neunziger Jahre, mit denen Aeschbachs malerisches Werk, soweit es heute bekannt ist, einsetzt, beherrscht eine gestische, informelle Malerei den Bildraum und durchdringt die einfachen, modernistischen Gebäude, die wie abstrakte Figuren in Weiss, Grau und Schwarz ins Bildfeld gemalt sind. Gleichförmig und dicht mit Einfamilienhäusern überbaute Hänge im Schweizer Mittelland sind das Sujet dieser Gemälde. Die Bilder wirken wie malerische Vorwegnahmen der in Rom entstandenen Fotografien. Sowohl in diesen Fotografien als auch in den frühen Gemälden werden Darstellungsmodus und Bilderzählung bestimmt durch das Spannungsverhältnis von Natur und Zivilisation. Die Fotografien zeigen die unkontrollierte Renaturierung der aufgegebenen Baustellen. In den Gemälden kommt diese Funktion der gestischen, ausdrucksbestimmten Malerei zu. In jenen Jahren entstehen auch die schon erwähnten abstrakten Bilder, die sich auf Richters Malerei beziehen. In diesem Zusammenhang muss auch ein 1995 entstandenes Figurenbild erwähnt werden, wird doch an dieser Körperdarstellung erkennbar, dass für Aeschbach das Künstliche selbst im vermeintlich Natürlichen zu orten ist. Das Gemälde zeigt, um Kopf und Füsse beschnitten, einen gleichmässig gebräunten und durch Bodybuilding geformten männlichen Körper. Wie schon bei den Architekturbildern wiederspiegelt sich auch bei diesem Gemälde die zivilisationskritische Haltung ihres Autors. Der Künstler baut auf Aporien und Paradoxa. Die Thematisierung und malerische Klärung des Verhältnisses von Natur und Kultur sind schaffensbestimmende strukturelle Konstanten im Werk.

Es gibt Kunstwerke, die den Betrachter vor allem sensibilisieren wollen für eine genauere Wahrnehmung und ein soziologisches Verständnis der ausserkünstlerischen Wirklichkeit. Seit den sechziger Jahren entstehen wahrnehmungstheoretische und institutionskritische Arbeiten, die für die jüngere Entwicklung der Kunst wegweisend sind. Zu erwähnen sind hier Künstler wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Michael Asher. Neuerdings, wie übrigens schon verschiedentlich zuvor in der Geschichte der Kunst, interessieren sich die Künstler in ihrem Schaffen für den Kontext, in dem sie leben und arbeiten. Sie verstehen das Werk als Instrument, das in der sozialen Wirklichkeit angewandt werden soll. Oder sie wiederholen, wie die Kunst der neunziger Jahre zeigt, im Kunstkontext einzelne Ereignisse, Strukturen oder Verhaltensweisen aus dem ausserkünstlerischen Alltag. Nichts von alledem findet das Interesse des Malers Urs Aeschbach. Er hat sich in seinem Schaffen früh für ein autonomes Werkverständnis entschieden, das selbstverständlich wache Zeitgenossenschaft keineswegs ausschliessen muss. Die Bilder seiner Gemälde erscheinen in sich abgeschlossen, vor allem in den neueren Arbeiten beinahe ohne jede Referenz ausserhalb ihrer selbst, und dies, obwohl er aussschliesslich malt, was er gesehen hat. Das Gesehene wird solange bearbeitet, bis das erarbeitete Bild an sich den Maler überzeugt. Die als Vorlage benutzte Fotografie wird nicht kopiert, sondern sie wird in ein Gemälde übersetzt. Medientheoretische Überlegungen, die bei Richter werkkonstitutierend sind, wirken dabei lediglich im Hintergrund mit. Das einzelne Werk soll dem Betrachter als ebenso wirklich, lebendig und beseelt erscheinen wie die Wirklichkeit selbst.

An einer Landschaft von 1995 aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses, einem grossen Waldstück, lässt sich darlegen, welche künstlerischen Verfahren zu diesem Ergebnis führen können. Die Arbeit wurde nach einer Fotografie einer Allee gemalt, die der Künstler einige Jahre zuvor während einer Wanderung im Jura aufgenommen hat. Die fotografierten Bäume sind bis auf den Stamm und grob zurückgeschnitten. Die abgesägten Äste und Zweige liegen entlang der Strasse am Boden verstreut. Es ist ein Bild der Verletzung. Auf dem grossen Gemälde erscheinen die ebenfalls bis auf den Stamm zurückgestutzten, verstümmelten Bäume dagegen angeordnet als dichter, ausgedehnter Wald, in dem an vielen Stellen gespaltenes Holz sorgfältig aufgeschichtet liegt. Die Perspektive ist so gewählt, dass der Betrachter sich von Wald umgeben sieht. Orange und grüne Zimmerpflanzen bilden den Waldboden. Das Auge wird auf einem orangen und einem grünen Pfad durch den naturfernen Bildraum geführt. Am rechten Bildrand sind die Farben aufgehellt, so diskret, als ob der Eindruck einer leicht verblichenen Abbildung erzeugt werden soll. Die Bildstruktur besteht aus relativ wenigen Elementen, die mehrmals verwendet werden: in diesem grossen Waldbild etwa die Bäume und das aufgeschichtete gespaltene Holz.

In den späten neunziger Jahren folgen auf die vom Alleebild angeregte Werkgruppe einige Stillleben und eine Serie von Berglandschaften. Wiederum bilden Aporien und Paradoxa das Potential an Eigensinn in diesen Bildern aus und erzeugen dadurch beim Betrachter Interesse, Neugier, aber auch Distanz. Neugier und Interesse, weil das wiedererkennende Sehen angesprochen wird, ohne dass sich gleichzeitig auch ein aus der Alltagserfahrung bekanntes, spezifisches Gefühl oder ein vertrauter und benennbarer visueller Eindruck einstellen würden. Distanz, weil die malerische Gleichbehandlung von Figur und Grund die Erfahrung und Beschreibung der räumlichen Gliederung des Gemäldes nicht erlaubt. Das Prinzip der Gleichbehandlung gilt sowohl für die Flächenausdehnung als auch die Tiefenschichtung der Bildelemente, etwa der Felsformationen in einer der gemalten Landschaften. Es gibt keine innerbildliche Hierarchie, kaum eine Steigerung und kaum eine Dramatisierung des Bildgeschehens. Eine spezifische Eigenart dieser Bilder ist somit ihre relative Statik. Die ornamentale Auffassung einzelner Bildelemente und die reduzierte Farbigkeit tragen zur Beruhigung des Bildgeschehens bei und können in letzter Konsequenz bei einzelnen Arbeiten zur Erfahrung von Aufgehobenheit und Stille führen.

Das Prozesshafte, in Naturvorstellungen stets enthalten, ist in diesen neuen Gemälden wiederum dem Bild entzogen und an die Malerei übertragen. Die dargestellte Natur erscheint in den Berglandschaften als verdichtetes, festgefügtes Bild ihrer selbst. Kein Vogel am Himmel, kein Mensch im Wald, kein Bergwild in den Felsen. Lautlos stürzt das Wasser zu Tal. Die gemalten Orte sind Orte der Malerei. Nur der Künstler kennt sie. An ihnen manifestieren sich der bildnerische Prozess sowie das Handwerk der Malerei. Vielleicht sind es leere Orte, allerdings nicht im Sinne des offenen Kunstwerks, das einen Betrachter vorsieht, der durch seine Lektüre das Bild erst erzeugt. Es sind jedenfalls unzugängliche, unbelebte und einsame Orte, die eloquent und ansprechend von einer autonomen, entschieden den Gesetzen der Malerei verpflichteten Bildwelt erzählen.


Dieser Text ist erschienen in: Urs Aeschbach, Katalog, Kunstmuseum Olten, 2003, S. 8-10.