Roman Kurzmeyer

Katharina Grosse:
Gegenwart, ihre Umsetzung in Malerei, in Südkorea



Die Wandmalerei, von der ich berichte, entstand für eine Ausstellung in einer kleinen Stadt in Südkorea und wurde nach Ausstellungsende wieder übermalt. Ich beginne mit einigen wenigen allgemeinen Bemerkungen zur Malerei von Katharina Grosse und komme anschliessend eingehend auf die zur Debatte stehende Ausstellung in Kyongju zu sprechen.

Katharina Grosse malte bis vor wenigen Jahren ausschliesslich mit Pinsel und Bürste, seither verwendet sie zusätzlich auch die Spritzpistole. Es handelt sich um eine grundsätzlich andere Technik, wird doch der Bildträger bei diesem Verfahren nicht berührt. Die Farbe wird unter grossem Druck zerstäubt, punktuell auf den Bildträger gesetzt und verdichtet. Sprayarbeiten haben per se einen hohen Grad an struktureller Unschärfe, da die unter Druck zerstäubte Farbe nur bedingt kontrolliert werden kann. Das Verfahren fördert prozessuales Schaffen und erzeugt einen starken Illusionismus. Parallel zu den autonomen Arbeiten auf Leinwand, Papier und Aluminium sind in den vergangenen Jahren auch grosse ein- und mehrfarbige, ortsspezifische Wandbilder sowie einige gesprühte Bilder auf mobile Raumeinbauten entstanden, von denen bislang nur einige wenige erhalten blieben. Inzwischen wendet die Künstlerin die Sprühtechnik auch in Kombination mit traditionellen Maltechniken in ihrem autonomen Schaffen an.

Die Künstlerin pflegt die ortsspezifischen Arbeiten in kleinen und annähernd masstabsgetreuen Raummodellen, die sie aus Karton selbst herstellt, vorzubereiten. Diesem Arbeitsschritt voraus geht meistens eine Ortsbegehung. Es gibt zwar weder Vorzeichnungen noch Entwürfe für diese Arbeiten, aber doch eine Vielzahl von Überlegungen, Bildvorstellungen, Wünschen und Ideen, die in sich durchaus widersprüchlich sein können. Die Künstlerin stellt die Modelle vor sich auf den Atelierboden und sprüht Farbe aus der Dose direkt in die kleinen Modellräume. Inzwischen ist eine schöne Sammlung dieser Modelle entstanden, die man sich eines Tages zu einer eigenen Ausstellung zusammengestellt wünscht.

Unter einem Modell verstehe ich nicht nur das Vorbild oder die Nachbildung, die plastische Darstellung eines Werkes in verkleinertem Masstab, sondern auch die Urform eines Bildwerks. Jedes Modell steht in diesem doppelten Bezugssystem, womit auch klar wird, weshalb dieser Begriff für die Beschäftigung mit Werken der Kunst so wertvoll ist. Dass in Italien seit dem 15. Jahrhundert das Zeichnen von Plänen und das Bauen massstabsgerechter, geschnitzter und bemalter Modelle zu den üblichen Planungsarbeiten der Architekten zählten, wissen wir aus den Schriften Albertis. Für die Künstler, die diese Modelle nach ihren Zeichnungen und Vorstellungen anfertigen liessen, waren die Modelle Instrumente, um ein genaueres Bild dessen zu bekommen, was sie in ihren Plänen geistig angelegt hatten, aber auch um die Gunst der Bauherren zu gewinnen und um später den Handwerkern für deren Arbeit eine Orientierungshilfe zu geben. Insofern unterscheiden sich diese Modelle nicht grundsätzlich von denjenigen, die Architekten heute von Modellbauern nach ihren Plänen anfertigen lassen. Interessanterweise aber gehen viele dieser Modelle in Anlage und künstlerischer Ausgestaltung weiter als die schliesslich realisierten Gebäude. Sie sind Zeugnisse architektonischer Visionen und ungebauter, manchmal unbaubarer Architektur. Die Modelle haben heute den Status autonomer künstlerischer Werke. Dass es sich vielleicht schon für die Zeitgenossen so verhalten hatte, lässt das Beispiel des Modells für Antonio de Sangallos Peterskirche in Rom vermuten, an dem der Assistent Antonio Labacco sieben Jahre arbeitete und dessen Kosten die Aufwendungen für den Bau einer Kirche überstiegen. Modelle spielen auch in der Kunstgeschichte der Neuzeit eine Rolle. Der Kulturanthropologe Claude Levi-Strauss hat auf die Bedeutung des Modells für Poussin hingewiesen, der seine Figuren nach Vorlagen malte, die er selber in Wachs modelliert hatte. Levi-Strauss spricht deshalb bezogen auf Poussins Verfahren von einer doppelten Artikulation: "Mit diesen Modellen vor Augen begann er zu malen. Kleine Löcher, in die Wände der Schachtel gebohrt, die die gesamte Szenerie in sich barg, ermöglichte es ihm, sie von hinten oder seitlich zu beleuchten, das Licht von vorne zu kontrollieren und die Längen der geworfenen Schatten auszumessen. Kein Zweifel, dass er auch versuchte, die Figürchen zu ziehen und zu verschieben, um die Komposition der Szene festzuhalten, deren verkleinertes Modell er damit konstruierte." Einer der Schlüssel zum Verständnis von Poussins Originalität und Monumentalität liegt laut Levi-Strauss darin, "dass seine Bilder Werke zweiten Grades sind, wobei der erste derjenige ist, den bereits, wenn auch mit einfacheren und wesensverschiedenen Mitteln, das Modell als eine Art vollendetes Werk realisiert hat: ein Stadium, in dem die Kunst bereits alle Ressourcen einer Bastelarbeit ausgeschöpft hat."

Katharina Grosse hatte ihre Ausstellung im Artsonje Museum in Kyongju wie üblich in einem kleinen Modell vorbereitet. Sie verfügte über Pläne und Fotografien der Ausstellungshalle, kannte die Situation aber nicht aus eigener Anschauung. Eine vorherige Ortsbegehung war der grossen Entfernung wegen nicht möglich. Das Artsonje Museum wurde 1991 am Pomun See eröffnet, einem Ferien- und Naherholungsgebiet ausserhalb von Kyongju. Der kleine Ort war die Hauptstadt des Shilla Königreichs (1. Jh. v. Chr. - 9. Jh. n. Chr.) und ist deshalb ein wichtiger touristischer Anziehungspunkt des Landes. Südkorea, das noch in den sechziger Jahren zu den ärmeren Ländern der Welt zählte, ist heute eine der wichtigsten Industrienationen. Die bewaldeten Gebirgs- und Hügelzüge, die das Land überziehen, bestimmen nicht nur das Bild von Korea, sondern sind wie die Hügelgräber, auf die der Reisende immer wieder trifft, Räume der Erinnerung. In der Umgebung Kyongjus liegen bedeutende buddhistische Tempel wie Pulguksa (8. Jh. n. Chr.) und hoch in den Bergen die Sokkuram-Grotte, in der ein sitzender Buddha auf dem Lotosthron (8. Jh. n. Chr.) zu sehen ist, der zu den schönsten Buddhafiguren Asiens zählt. Das Artsonje Museum ist ein privates Museum mit einer eigenen Sammlung moderner Kunst, deren Schwerpunkt Werke koreanischer Künstler bilden. 1997 wurde ein Erweiterungsbau erstellt, um jüngeren Künstlern experimentelle, situationsbezogene und insbesondere installative Arbeiten zu ermöglichen. Das zusätzlich 1999 in Seoul eröffnete Artsonje Center kümmert sich ausschliesslich um die zeitgenössische Kunst und entwickelt sich zusehends zu einem bedeutenden Vermittlungsort internationaler Gegenwartskunst. Katharina Grosses Ausstellung fand in Kyongju im erwähnten Erweiterungsbau des Artsonje Museums statt. Es handelt sich um eine grosse eingeschossige und fensterlose Halle, die nicht unterteilt ist. Die Hangararchitektur bringt es mit sich, dass die Volumen von Gebäude und Innenraum fast identisch sind. Wände, Decke und Konstruktionselemente sind in demselben glänzenden weissen Farbton gespritzt. Die Künstlerin nahm die Einladung zum Anlass, erstmals einen Raum integral zu bearbeiten und eine mehrteilige Arbeit zu realisieren. Vorgesehen war, die Arbeit im Gehen zu sprühen. Die Malerei sollte diese verschiedenen Bewegungen im Raum als illusionistischer Bildraum sichtbar machen.

Es gab im Vorfeld verschiedene Ideen, wie diese mehrteilige Arbeit aussehen könnte: Grosse plante zunächst eine einzige grosse Arbeit, die mit einer zweiten übersprüht werden sollte. Eine vielteilige Arbeit, in der sich einzelne Elemente wiederholen, stand ebenfalls zur Diskussion. Möglich schien ihr schliesslich auch eine Sequenz von Arbeiten, die sich überlappen. Die Halle ist so klar und einfach strukturiert, dass es nicht möglich ist, mittels der Malerei eine Störung zum Raum zu entwickeln, folglich müssen die Arbeiten zueinander diese Reibung erzeugen. Es entstand ein mehrteiliges, aus drei Sprüharbeiten und einer Wandzeichnung bestehendes Werk.

Die Künstlerin verwendete vier Tage für die Realisierung der Arbeit. Am ersten Tag besprühte sie zunächst die schadhaften Stellen auf den Wänden mit weisser Farbe. Mit einem hellen Grün erzeugte sie sodann in der vom Eingang aus hinteren linken Raumecke eine lineare Malbewegung, in einem zweiten Arbeitsgang kamen Flecken dazu. Die Künstlerin wiederholte mit einem dunkleren Grün den Vorgang, der Farbauftrag war wiederum zunächst linear und dann erst flächig. Als dritte Farbe sprühte Grosse ein kräftiges Orange, betont wurde nun die Horizontale. Es wurde nicht die volle Höhe bearbeitet, welche die Arbeit schon erreicht hatte. Grosse bewegte die Spritzpistole langsam und hielt immer wieder inne, ohne allerdings an Ort den Farbauftrag zu unterbrechen. Sie nahm Farbverdichtungen vor und erzeugte Tränen. Mit gelber Farbe wurde die Arbeit an einzelnen Stellen ergänzt und erweitert. Am Nachmittag des ersten Tages zeichnete sie eine regelmässige Abfolge von roten vertikal verlaufenden Linien auf die linke der beiden Längswände. Sie zeichnete mit einem schmalen Pinsel an einer langen Bambusstange, die zuvor im Hain vor dem Museum geschnitten worden war. Es war das erste Mal überhaupt, dass Grosse sich anschickte, eine Wandzeichnung zu realisieren. Da die Striche sie in ihrer Ordnung zueinander nicht überzeugten, stellte sich die Künstlerin am Abend des ersten Tages die Frage, ob sie die Zeichnung übermalen sollte. Sie erinnerte sich ihrer Handzeichnungen, an denen sie jeweils weiterarbeitet bis ein Ergebnis vorliegt, welches sie überzeugt. An jenem Abend verdichtete und erweiterte sie zunächst die schon bestehende Zeichnung und legte anschliessend weichere Striche zwischen die schon gemalten Linien. Am zweiten Tag bearbeitete Grosse zunächst die grosse Sprayarbeit. Die Wandarbeit wirkte auf die Künstlerin farblich zu duftig und in ihrer Form zu unbestimmt. Sie überarbeitete sie mit fluorszierenden Orange, Gelb und Rot. Die Farbe wurde im Gehen horizontal aufgetragen. In der Ecke konzentrierte sie Dunkelgrün als Scharnier zwischen dem eher schwebenden, dunklen rechten Arm der Arbeit und dem leichten, fluoreszierenden linken Arm. Gegen Abend des zweiten Tages begann Grosse eine kleine türkisfarbene Fläche zu sprühen, trug anschliessend mehrere Schichten Perlmutter auf und übersprühte das Zentrum des nach innen orientierten ovalen Flecks am dritten Arbeitstag mit Orange und einem hautfarbenen Rosa. Sie verband die Zeichnung mit der grossen Sprayarbeit, indem sie eine braune gesprühte Fläche horizontal aus der hinteren rechten Raumecke an die Zeichnung heranführte. Die Zeichnung wurde noch einmal verdichtet und über die vordere rechte Raumecke geführt. Auf der grossen gesprühten Wandarbeit wiederholte sie die ovale Figur in expressiverer Form. Schliesslich übersprühte sie am vierten Arbeitstag die grosse Wandarbeit grossflächig mit einem intensiven Orangeton und legte dabei gleichzeitig neue, durchlässigere Konturen an, die die Monumentalität der Arbeit steigerten.

Die Gleichzeitigkeit von Tätigkeit und Denken ist für Grosse eine grundlegende Eigenschaft von Malerei. Konzeptuelle Überlegungen und kompositorische Entscheidungen verschiebt die Künstlerin deshalb mehr und mehr in den bildnerischen Prozess selbst. Die prozessuale Arbeitsweise setzt eine starkes Vertrauen in die Logik des Mediums voraus. Selbsterfahrung ist gekoppelt an die Erfahrung mit dem Medium Malerei, erfordert Geistesgegenwart und schliesst die Sinnhaftigkeit von Fehlern ein.

Was ist der Inhalt dieser Malerei? Sie stellt durch ihre Farbigkeit ein bestimmtes Empfinden zur Diskussion und erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Sie zeigt insbesondere einen Handlungsablauf, die Entstehung eines Gemäldes. Das Motiv dieser Malerei ist ihre eigene Struktur: Sie visualisiert den Träger, den Farbauftrag, die Farbigkeit und die Komposition. Die Arbeit ist eine Farbfläche, auf die Wandoberfläche aufgesprühte Farbe in unterschiedlichen Farbtönen. Sie ist ein Farbraum insofern, als sich das Zusammenspiel der Farben für das Auge zu einer Raumillusion ausbildet. Die Arbeit ist eine Projektionsfläche, weil eine offene Struktur sich anbietet, interpretiert zu werden. Man erinnert sich an Leonardos oft zitierte Aufforderung zum Träumen mit offenen Augen: "Und das geschieht", heisst es in dessen Schriften, "wenn du manches Gemäuer mit verschiedenen Flecken oder mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen anschaust; wenn du dir gerade eine Landschaft ausdenken sollst, so kannst du dort Bilder verschiedener Landschaften mit Bergen, Flüssen, Felsen, Bäumen, grossen Ebenen, Tälern und Hügeln verschiedener Arten sehen; ebenso kannst du dort verschiedene Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden, seltsame Gesichter und Gewänder und unendlich viele Dinge sehen, die du dann in vollendeter Form und guter Gestalt wiedergeben kannst." Die gesprühten Wandarbeiten regen in vergleichbarer Art zum Sehen an, sind aber auch schon die beabsichtigte Form. Man könnte auch sagen, die Arbeit hat eine fotografische Qualität, weil sie die Oberflächenbeschaffenheit und - struktur der Wand und anderer einbezogener Trägerelemente sichtbar macht.

Es ist schwierig, die verschiedenen Raumarbeiten, die Katharina Grosse in den letzten drei Jahren realisierte, qualitativ von einander zu unterscheiden. Ich sehe keine Kriterien, die zur Anwendung gebracht werden könnten. Da die Referenz eine Handlung ist, die durch den Malprozess abgebildet wird, sind die malerischen Entscheidungen, die den bildnerischen Prozess strukturieren, das zentrale Thema der entstandenen Malerei. Man nimmt die Geschwindigkeit und den Rhythmus des Farbauftrags wahr, wird mit dem Spiel von Vertrauen und Zweifel in die malerische Handlung konfrontiert und versucht den malerischen Überlegungen, Korrekturvorgängen und Formfindungen zu folgen. Das Thema ist demnach die Darstellung von Gegenwart sowohl im zeitlichen als auch im topographischen Sinne. Es handelt sich um eine subjektorientierte Position zeitgenössischer Malerei.

Hier ist denn auch der Moment, nocheinmal kurz auf das Modell zu sprechen zu kommen. Das Modell dient der Künstlerin zur Vorbereitung ihrer Monumentalmalerei und zwar vor allem hinsichtlich der Platzierung der Arbeit im Raum. In diesen Modellen sind die Raumverhältnisse masstabsgetreu nachgebaut, Türen und Fenster sind ebenfalls eingezeichnet, nicht berücksichtigt sind dagegen alle anderen architektonischen Elemente wie Wandverkleidungen, sanitäre und elektrische Installationen, Wand- und Bodenfarben, Beschriftungen oder Mobiliar. Diese Elemente spielen weder für die konzeptuellen Überlegungen der Künstlerin eine Rolle noch werden diese bei der Ausführung einer Arbeit berücksichtigt. Sie übersprüht Sockelleisten, Schalter, Kästen und Steckdosen, als ob all diese Dinge wie im vorausgegangenen Modell nicht zu sehen wären. Katharina Grosse unterscheidet nicht zwischen Experiment und Wirklichkeit, Test und Ausführung.

Das in Kyongju entstandene mehrteilige Werk ist eine ortsspezifische, aber keine kulturspezifische Arbeit. Der lokale Kontext spielte für die Produktion dieser Malerei abgesehen von der Farbauswahl - die Künstlerin verwendete koreanische Acrylfarben - keine bestimmende Rolle. Das liegt einerseits an der Malerei selbst, andererseits selbstverständlich auch an der Industriearchitektur der Ausstellungshalle, die keiner lokalen Tradition verpflichtet ist. Das Gebäude könnte an vielen Orten dieser Welt stehen. Als wir am Tag vor der Ausstellungseröffnung die grosse Flügeltür an der Stirnwand der Halle aufstiessen und diese den Blick auf den dahinter liegenden Park, das Licht und die Vegetation freigab, wurde die Malerei für einige wenige Stunden kontextualisiert. Mit dem einfallenden Licht zeigte sich die Resistenz der Arbeit gegenüber dem Kontext und wurde die autopoetische Dimension dieser Malerei wahrnehmbar.


Der vorliegende Beitrag erschien erstmals in Katharina Grosse: Location, Location, Location, Düsseldorf: Richter Verlag 2002, S. 70-85.