Roman Kurzmeyer


Karim Noureldin
Räume, ortlos



In Betrachtung einiger Arbeiten von Karim Noureldin wurde deutlich, wie wichtig das Verhältnis von Ort, Raum und Zeit für ein bestimmtes Verständnis von Kunst ist. Nachdenken über ein Werk heisst stets Vergleich, und zwar sowohl werkimmanent als auch werkfremd. Um die spezifische Form der Kunst von Noureldin genauer zu sehen, sind meinen Ausführungen einige wenige Hinweise zu zwei anderen künstlerischen Positionen vorangestellt. Es zeigte sich dabei, dass zusätzlich zu den erwähnten Aspekten ein weiterer, nämlich derjenige der Körpererfahrung, in die Diskussion der Arbeiten einbezogen werden muss. Dieter Koepplin schreibt, das Zeichnen erscheine bei Noureldin "als eine unbegrenzte Tätigkeit, als ein rastloses strukturierendes Arbeiten mit Bleistift und Lineal auf Zetteln, von denen einer nach dem anderen einem Schreibblock entnommen wurde." Die grosse Anzahl von Zeichnungen, die aus diesem Prozess resultierte, beschreibt einen sehr engen Motivkreis. Es handelt sich um architektonische und konstruktive Strukturen. Die Anordnung dieser Zeichnungen zu Feldern oder ganzen Räumen, die für Ausstellungen von Noureldin charakterisch sind, folgt demnach einer selbstreferentiellen Logik.

Bruce Nauman zeigt Selbsterfahrung als Körpererfahrung. Sein Augenmerk gilt dem Transfer dieser Erfahrung auf die Ebene bildnerischer Darstellung. Mit Bedacht wird dabei jede Form von illusionistischer Visualisierung vermieden. Es gibt bei Nauman keinen landschaftlichen oder architektonischen Umraum, da der von ihm thematisierte Raum stets ein innerer, psychischer Raum ist. Gemeint ist immer der Einzelne, das eigene Selbst in seiner Ausgesetztheit, Einsamkeit und Ausweglosigkeit. Nauman setzt die Erfahrung primär und arbeitet an einer instrumentellen Visualisierung. Man kann von Versuchsanordnungen oder auch von Modellen sprechen. Er geht so weit, jenen Ort bildnerisch zu konstruieren, an welchem diejenige Erfahrung möglich scheint, die er sich vorstellt. Seine Korridore und die Zeichnungen unterirdischer Räume, auf die im vorliegenden Zusammenhang besonders hingewiesen sei, entwerfen solche Orte.

Diana Thater hat von Bruce Nauman gelernt, den Ort des Werkes als vom Menschen erfahrene Welt zu begreifen. Sie entwirft den Ort des Werkes als Raum einer Erzählung, für die sie Film und Video heranzieht. Sie zeigt nicht den Riss zwischen Subjekt und Welt, sondern sie betont im Gegenteil das Eintauchen und Aufgehen in einer Situation visueller Opulenz. Mit Bildern, Licht und Farbe, die mittels Projektionen über Wände, Decke, Boden und Mobiliar des Raumes geführt werden, wird ein Raumkontinuum zu erzeugen versucht, in dem sowohl die architektonische Ordnung als auch die Trennung von Betrachter und Werk aufgehoben erscheinen. Tatsächlich aber bleibt der architektonische Raum und damit das Reale trotz der Grossprojektionen sichtbar, da die Künstlerin die Ausstellungsräume nie verdunkelt, sondern das einfallende Licht einfärbt. Sie überklebt die Fensterscheiben mit farbigen Folien. Stimmungsraum und Realraum greifen ineinander, überlagern und durchdringen sich. Diese selbstreflexiven Züge des Werkes finden sich auch auf der Erzählebene angedeutet. Die Künstlerin arbeitet etwa mit Film- und Videoaufnahmen gezähmter wilder Tiere, die in der Installation so eingesetzt werden, dass sich dem geduldigen und aufmerksamen Betrachter des bewegten Panoramas das Bild domestizierter Natur als Gleichnis auf die Kunst mitteilt.

Karim Noureldin setzt beim Ort selbst ein. Paradigmatisch bringt dies eine Installation zum Ausdruck, die der Künstler 1997 bei sich in New York aufgebaut hat. In einem einzigen Raum waren 1058 Zeichnungen zu sehen. Es handelte sich um zumeist sehr kleinformatige Arbeiten, die in einem grossen und hohen Raum ausgestellt waren. Alle Wandflächen und selbst die Türe waren mit Arbeiten dicht behängt. Das Fenster gab den Blick auf den Stadtraum von Brooklyn frei. Die Arbeiten evozieren Architektur. Es sind bestimmte abstrakte Konfigurationen, die an Entwurfszeichnungen eines Architekten oder Ingenieurs denken lassen. Die Zeichnung befindet sich meistens im Blattzentrum, sodass sich die Figuren der verschiedenen Werke optisch nicht verbinden, obwohl zahlreiche Arbeiten Rand an Rand hingen. Die Installation zeigte die unablässige Wiederholung eines, wie es schien, immer wieder vorzeitig abgebrochenen Darstellungsprozesses und erzeugte dadurch ein Bild vergeblicher Arbeit, sinnloser Anstrengung und absurder Räumlichkeit. Es war, als ob der Künstler den Prozess der Raum- und Ortsentfaltung mit jedem Blatt von vorne beginnen müsste. Selbstreferentielle Arbeit am Nullpunkt scheint dafür die passende Formulierung zu sein.

Eine zwei Jahre nach diesen Zeichnungen entstandene Edition, die 25 Fotografien umfasst, ist eine Reise durch städtisches Niemandsland, vorbei an anonymen und hässlichen Bauten, von denen einige aus industriell vorgefertigten Elementen errichtet wurden. Der Künstler führt Gebäudeskelette, Bauruinen, abweisende, leblose Fassaden vor, geschlossene Storen, verspiegelte Fenster und vergitterte Eingänge. Der modernistische Blick hätte die Schönheit und Regelmässigkeit der Ordnungen und Muster festgehalten, die sich durch den Elementbau unwillkürlich ergeben. Noureldin aber zeigt das städtebauliche Versagen des architektonischen Minimalismus. Während die Ortsspezifik in der Kunst seit den sechziger Jahren ein wichtiges und zeitweise sogar dominierendes Thema war, verlor gleichzeitig der Ortsbezug in der Architektur an Bedeutung. Noureldin richtete die Kamera auf eine zersiedelte und leere Welt, jedes Haus scheint fehl am Platz.

Die seither geschaffenen Installationen mit wandfüllenden Papierbahnen fassen ganze Räume ein und entwerfen imaginäre Panoramen. Der Betrachter wird von der Zeichnung umgeben. Musste der Blick angesichts der zahllosen kleinen Zeichnungen früherer Werke zwangsläufig kapitulieren, wird dieser nun in den Panoramen geführt und gerichtet. Das Auge folgt den von Hand gezeichneten, horizontal verlaufenden Linien und trifft an einigen wenigen Stellen auf kleine architektonische Elemente, die wie ferne Raumstationen wirken. Die Installationen der kleinformatigen Zeichnungen in einem Raum entwarfen Orte als Situationen obsessiven Zeichnens. Diese unheimliche Gegenwart des Zeichnens, der Zeichnung als Medium und dem Blatt Papier als Bildort entstand durch Summierung der Werke und einer damit zusammenhängenden optischen Überforderung des Betrachters. Die mit feinen Linien versehenen Papierbahnen verbergen die Stofflichkeit der Wände und somit die reale Örtlichkeit. Die grossen Papiere werden nicht aufgeklebt und gehen somit auch keine feste Verbindung mit dem architektonischen Raum ein. Es sind autonome, reine Zeichnungen. Sie erscheinen und wirken wie Masken. Der Ort, den diese Arbeiten entwerfen, ist nicht wie bei den früheren Installationen ein konkreter Ort der zeichnerischen Praxis, sondern ein distanzierter, virtueller Ort der Vorstellung.

Dieser Beitrag erschien in: Karim Noureldin, Katalog, Kunstmuseum Thun, 2000