Computerprogramme sind nicht der Weisheit letzter Schluss
Auf der Suche nach künstlicher Intelligenz haben Computerwissenschafter während Jahrzehnten ihren eigenen Kopf studiert - und nichts gefunden. Seit einigen Jahren beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, dass Intelligenz nicht nur im Gehirn lokalisierbar ist und sich nicht mit dem Algorithmus «sense, think, act» reproduzieren lässt. Der Körper rückt als notwendige Bedingung von Intelligenz ins Zentrum des Interesses. Einer der herausragenden Vertreter dieser «Embodied Cognitive Science» oder «New Artificial Intelligence» genannten Forschungsrichtung ist Rolf Pfeifer, Leiter des Labors für künstliche Intelligenz am Institut für Informatik der Universität Zürich.
«Sorry, I can't do that, Dave» - mit liebenswürdig weicher Stimme verweigert der Computer HAL dem letzten überlebenden Besatzungsmitglied Dave den Wiedereinstieg ins Raumschiff. Die Szene stammt aus dem Film «2001 - A Space Odyssey» von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968. HAL verfügt über Intelligenz, entwickelt eigene Ziele, übernimmt das Kommando und führt die Mission schliesslich ins Verderben. HAL ist nicht sichtbar, aber omnipräsent - im Film wird er durch eine rote Kontrollampe symbolisiert. Der Regisseur Stanley Kubrick fasst in diesem Film diffuse Ängste, Hoffnungen und Erwartungen gegenüber dem gerade eben anbrechenden Digitalzeitalter in eine grosse Metapher, die den Zeitgeist traf.
Die Science-fiction-Schöpfung HAL, aber auch die eindrückliche Leistung des schachspielenden IBM-Computers Deep Blue repräsentieren ein auch heute noch weit verbreitetes Verständnis von künstlicher Intelligenz. Es beruht auf der einfachen Gleichsetzung von Gehirn und Computer und der naheliegenden Folgerung, dass es nur eines genügend grossen Computers bedürfe, um die Leistung des menschlichen Gehirns zu erreichen oder gar zu übertreffen. «Die Vorstellung vom Menschen als informationsverarbeitender Maschine ist eine unzulässige Vereinfachung», sagt Rolf Pfeifer, Leiter des Labors für künstliche Intelligenz am Institut für Informatik der Universität Zürich.
Nützliche Idioten
Dass das klassische Konzept der künstlichen Intelligenz auf wackligen Füssen steht, zeigte sich, als die Forscher versuchten, die Computer dazu zu bringen, auch einfache menschliche Verrichtungen nachzuahmen. «Es erwies sich, dass das, was für Menschen einfach ist - das Gesicht des Freundes erkennen, lesen, aus einer Tasse Kaffee trinken, eine Zeitung zusammenfalten, eine Mahlzeit zubereiten -, Maschinen sehr schwer fällt und dass Dinge, die Menschen als schwierig empfinden - logisches Denken, Rätsel lösen, Schachspielen -, Computern leichtfällt», heisst es im kürzlich erschienenen Buch «Understanding Intelligence», das Pfeifer zusammen mit seinem Mitarbeiter Christian Scheier verfasst hat. In diesem Buch (vgl. nebenstehenden Artikel) wird der Versuch gemacht, das Forschungsfeld der «New Artificial Intelligence», die aus dem Scheitern der klassischen künstlichen Intelligenz ihre Lehren gezogen hat, umfassend und systematisch - soweit das bei einer noch jungen und sich dynamisch entwickelnden Disziplin möglich ist - darzustellen.
Die Schwierigkeiten bei den herkömmlichen Ansätzen zur Erforschung der künstlichen Intelligenz führten zu neuen Versuchsanordnungen. Es ging jetzt nicht mehr darum, möglichst grosse und leistungsstarke Computer zu konstruieren; gefragt waren vielmehr einfache und robuste autonome Systeme. Solche simplen Maschinchen, wie sie sich etwa der Gehirnforscher Valentino Braitenberg 1984 im Rahmen von Gedankenexperimenten ausgedacht hat und wie sie am Zürcher Labor für künstliche Intelligenz gebaut werden, ermöglichen überraschende Einsichten: In einem durch Banden begrenzten Feld von zwei mal zwei Metern befinden sich ungeordnet kleinere Styroporblöcke. Drei einfache Roboterfahrzeuge fahren nun durch diese Versuchsanordnung. Dank zwei seitlich angebrachten Sensoren sind sie in der Lage, schräg vor ihnen liegenden Klötzchen auszuweichen. Hindernisse direkt vor ihnen können sie nicht wahrnehmen und stossen diese vor sich her. Lässt man die drei Roboter gewähren, so bietet sich nach rund einer Viertelstunde immer dasselbe Bild: Die Styroporblöcke liegen auf einigen wenigen Haufen.
Was ist passiert? Haben die Roboter aufgeräumt? Nein, sie haben nichts anderes getan, als herumzufahren und Hindernissen auszuweichen. Das «Aufräumen» ist von selbst entstanden, ohne dass die Fahrzeuge entsprechend programmiert worden wären. Dieses Phänomen heisst in der Fachsprache Emergenz - Selbstorganisation. Es ist für die New Artificial Intelligence, die auch «Embodied Cognitive Science» genannt wird, von zentraler Bedeutung. Komplexität - dies eine Folgerung aus diesem Phänomen - liegt nicht notwendigerweise im Programm begründet und muss dort auch nicht notwendigerweise repräsentiert sein. Oder mit den Worten Pfeifers: «Zweckmässiges Verhalten kann auch ohne rationales Denken zustande kommen.» Dass nicht das Programm, sondern das System für das Endresultat verantwortlich ist, lässt sich einfach zeigen: Verändert man die Lage der Sensoren, so passiert nichts Ähnliches mehr.
Neben Emergenz sind Embodiment, Redundanz und Subsumption weitere zentrale Konzepte der New Artificial Intelligence. Mit Embodiment wird das Arbeiten mit körperhaften Systemen, wie sie Roboter darstellen, bezeichnet. Redundanz bedeutet nicht einfach die Verdoppelung der Systeme - wie etwa im Flugzeugcockpit -, sondern die partielle Überschneidung, wie sie etwa beim Menschen durch Hören, Sehen und Fühlen geschieht. Zur Intelligenz gehört auch das Prinzip der Subsumption: Das Ganze ist eine Kombination von parallelen Prozessen, die nur lose miteinander gekoppelt sind und nicht zentral gesteuert werden. «Intelligentes Verhalten lässt sich nicht mit Symbolverarbeitung gleichsetzen», sagt Pfeifer. «Um solches Verhalten zu erforschen, brauchen wir reale Körper. Der Körper ist eine notwendige Bedingung für Intelligenz. In unserem Fall heisst Körper Roboter.» Die Wissenschafter bedienen sich einer synthetischen Methodik, die mit dem einfachen Satz «Verstehen durch Nacherfinden» umschrieben werden könnte.
Im Zickzack durch die Wüste
Ein Beispiel für eine solche «Nacherfindung» ist das Projekt Sahabot, das in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zoologie an der Uni Zürich realisiert wird. Rüdiger Wehner, Leiter dieses Instituts, erforscht seit langem Gehirn und Verhalten der Wüstenameise Cataglyphis. Dieses erstaunliche, nur wenig Millimeter grosse Insekt erweist sich auf seiner Nahrungssuche als ausserordentlich agil und findet nach seinen ausgedehnten Exkursionen über den glühend heissen Wüstenboden immer wieder geradlinig den Weg zurück zu seiner Höhle. Die Ameise muss über eine erstaunliche Navigationsfähigkeit verfügen. Durch neuro- und verhaltensbiologische Forschungen haben die Zürcher Zoologen die Mechanismen, die hinter dieser Fähigkeit liegen, Stück für Stück aufgedeckt. So konnten sie beweisen, dass sich die Wüstenameise an den Polarisationsmustern des Himmelslichts, die für den Menschen unsichtbar sind, orientiert. Gleichzeitig kann diese Ameise sich an die Umrisse ihrer engsten Umgebung erinnern. Weitere Versuche zeigten, dass die Ameise bei jedem Richtungswechsel nicht nur den Winkel, sondern auch die Anzahl der Schritte speichert, die sie in eine bestimmte Richtung zurücklegt.
In dreijähriger Arbeit haben die Biologen zusammen mit den Informatikern vom Labor für künstliche Intelligenz einen Roboter entwickelt der die Leistungen der Wüstenameise nachahmt. Jahr für Jahr werden die Hypothesen der Biologen in der tunesischen Sahara unter realistischen Bedingungen überprüft. Das Resultat ist erstaunlich: Der Roboter Sahabot bewegt sich zuerst ziellos und im Zickzack durch die Wüste, fährt aber zielgenau und geradlinig nach Hause, sobald er Futter gefunden hat.
Äusserlich hat dieser Roboter nichts mehr mit einer Ameise gemein: Er präsentiert sich als rund 30 Zentimeter langes Gefährt, das sich mit walzenartigen Rädern fortbewegt und mehr an einen kleinen Panzer als an ein Insekt erinnert. Sahabot analysiert die Umgebung mittels einer 360-Grad- Kamera und besitzt Sensoren, welche die Muster des polarisierten Himmelslichts erkennen können. Die Auswertung der Daten besorgt ein neuronales Netzwerk, das als Teil des Roboters dem Gehirn der Ameisen nachempfunden ist.
Roboter machen Schule
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz mag gelegentlich an Science-fiction erinnern und zu weitreichenden Spekulationen Anlass geben. Der Informatiker Rolf Pfeifer sieht Sinn und Zweck dieser Wissenschaft nüchterner. Wenig gibt der Zürcher Forscher den Thesen des Roboterspezialisten Hans Moravec. Der Leiter des Mobile Robot Laboratory an der renommierten Carnegie Mellon University von Pittsburgh prophezeit seit Jahren eine Machtübernahme durch die Roboter, so auch in seinem 1998 erschienenen Buch «Robot: Mere Machine to Transcendent Mind». Die Ideen von Moravec beruhen auf der Annahme, dass die Entwicklung von Rechen- und Speicherkapazität in absehbarer Zukunft die Konstruktion von Maschinen erlauben wird, die dem menschlichen Gehirn ebenbürtig sind oder es sogar übertreffen. «Als Wissenschafter würde ich nicht sagen, so etwas kann nie passieren. Das wissen wir nicht. Aber ich halte solche Spekulationen für reichlich naiv», führt Pfeifer aus. «Die Zukunftsvision von den Robotern, die die Menschen entmachten, wurde vermutlich mit einem Seitenblick auf ihre Medienwirksamkeit entworfen. Ich glaube, die Entwicklung wird anders verlaufen, weniger spektakulär.»
Robotik wird immer mehr in den Alltag integriert, davon ist Pfeifer überzeugt. «In naher Zukunft werden viele alltägliche Geräte mit Sensoren ausgestattet sein und damit eine &Mac220;menschlichere&Mac221; Interaktion erlauben.» Konsequenzen haben lernfähige Artefakte auch für die Ausbildung der Menschen. Roboter sind für Pfeifer ein ideales Lernwerkzeug. Er begrüsst auch die stärkere Integration von Computer und Internet in den Schulunterricht, sieht aber Grenzen: «Der starke Fokus auf das Digitale, auf das Programm führt zu einer Einschränkung des Denkens und der Kreativität.»
Dominik Landwehr*
Neue Zürcher Zeitung, 21. Januar 2000