Philip Ursprung, Zürich

Publiziert in "L/B", collection cahier d'artistes, Pro Helvetia 1998



Cooler Nachmittag


Angenommen, ich wäre an einem Herbstnachmittag im Jahre 1996 durch das Berner Lorrainequartier spaziert, dann wäre mir vielleicht die Botschaft "Inter will Roy" aufgefallen. Sie stand auf einer grossen, gelben Tafel vor dem leeren Schaufenster eines ehemaligen Kiosks. Auch wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich vor dem "Kiosk im Kunstkanal" stand, einem (wenn auch spärlich) subventionierten Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst, hätte ich kaum daran zweifeln können, dass es sich bei "Inter will Roy" um Kunst handelte. Eine Botschaft ohne Absender im öffentlichen Raum – so weit sind wir durch die zahlreichen Ausstellungen im Freien sensibilisiert worden – muss Kunst sein.

Ich hätte (wie auch manche andere Passanten in diesem an Künstlerateliers reichen Quartier) "Inter will Roy" zweifellos als Kommentar zum Thema Tafelmalerei identifiziert. Dieses Thema liegt ja in Bern dank dem Engagement der Kunsthalle und verschiedener Galerien und Sammler ständig in der Luft. Ja, im internationalen Kontext scheint Bern seit den späten 80er Jahren eine der letzten Trutzburgen zu sein für das bedrängte Medium der Malerei und die damit zusammenhängenden Ausläufer des spätmodernistischen Hochkunstdiskurses.

"Inter will Roy" hätte mich deshalb an die Ausstellung des amerikanischen Malers Christopher Wool erinnert, die vor einigen Jahren in der Kunsthalle stattgefunden hatte. Auf Wools grossformatigen Gemälden stehen in der Regel auf weissem Grund Botschaften, deren Lettern aus ihrer schablonenhaften Abstraktheit zu quellen scheinen und malerisch über die Bildoberfläche tropfen. Wools Spezialität ist die Erzeugung von schwarzgemalten Oberflächen aus gestockter Ölfarbe, ein Effekt, der bei den Betrachtern ein Stocken provoziert, sozusagen als mimetischer Reflex. Denn vor diesen Gemälden werden sie gleichzeitig zu Anschauenden, die die Gestalt wahrnehmen, und Lesenden, die Zeichen entziffern und dabei an einen Abgrund von Bedeutungen geführt werden.
Durch derartige Erfahrungen konditioniert, hätte ich wahrscheinlich begonnen, die Platte vor dem Kiosk eingehend zu betrachten und die Buchstaben einmal von oben nach unten und von hinten nach vorn zu lesen, um das genussreiche Spiel ein wenig in die Länge zu ziehen. Ich hätte mich dem Artefakt genähert, dahinter geblickt und es aus unterschiedlichen Distanzen und Blickwinkeln gemustert. Ich hätte die Wörter vor mich hin gemurmelt, um aus ihrer Melodie auf einen Sinn zu schliessen. Allerdings wäre ich bald enttäuscht worden. Die Botschaft stand ja nicht auf der Tafel, sondern war mittels der ausgesägten Lettern buchstäblich in Luft aufgelöst. Die Oberfläche war in keiner Hinsicht malerisch. In ihrer Materialität war kein Geheimnis und keine Aura verkörpert. Es hätte keine Rolle gespielt, wie lange ich das Ding betrachte, ob ich das Original vor mir gehabt hätte oder nur eine Reproduktion.

Tatsächlich habe ich das Original auch gar nie gesehen. Ich kenne es nur als Reproduktion, als farbigen Computerausdruck in der Künstlerdokumentation von Sabine Lang und Daniel Baumann. Immerhin habe ich in dieser Dokumentation etwas über die Ikonographie dieser Arbeit gelernt, das ich als Ignorant in Sachen Fussball vor dem Original nicht hätte wissen können: "Inter will Roy" zitiert eine Schlagzeile, die davon kündete, dass der italienische Fussballklub Inter Milano den Trainer der Schweizer Nationalmannschaft, Roy Hodgson, übernehmen wollte. Die Schlagzeile hing einen Tag lang vor allen Kiosken des Landes. Sie lag somit viel konkreter in der Luft als die Berner Malereidiskussion.

Im Falle von "Inter will Roy" ist der Verweis auf den Weltklasseklub Inter Milano für einen Fussballkenner ebenso naheliegend wie die Referenz an den Weltklasse-künstler Christopher Wool für einen Kunstkenner. Beide Verweise halten sich die Waage. Die Balance oder Komposition von unterschiedlichen Elementen, die traditionell die "Qualität" von Malerei ausmacht, wird erreicht durch die Ausgewogenheit der Referenzen an verschiedene Bereiche von Öffentlichkeit, also Kunst und Sport. Sinnvoll ist diese Begegnung aber nur im Rahmen der spezifischen Ausstellungssituation. In den neutralen Räumlichkeiten einer Ausstellungsarchitektur, etwa im weissen Kubus eines Museums oder einer Kunsthalle, würde der durch Lang/Baumann konstruierte Bedeutungszusammenhang willkürlich wirken. Aber vor der Kulisse des ehemaligen Kiosks erschliesst sich ein erzählerischer Zusammenhang, in welchem die einzelnen Elemente allegorisch miteinander verbunden sind.

Der Kiosk, oder genauer, die Ruine des Kiosks, wird als Hintergrund der Begegnung eingesetzt, sowohl räumlich als auch erzählerisch. Es geht den Künstlern aber keineswegs darum, die verlorene Aura des Kiosks im Sinne einer nostalgischen Spurensicherung zu vergegenwärtigen und abbröckelnde Farbschichten als Indikatoren vergangener, "wirklicher", Zeit zu zelebrieren. Es geht ihnen auch nicht darum, auf den "wirklichen" Raum zu reagieren und mit den architektonischen Gegebenheiten in einen formalen Dialog zu treten. Die physische Identität des Objekts Kiosk ist, wie diejenige der gelben Platte, sekundär. Mehr als für die räumliche und zeitliche Dimension des Kiosks interessieren sich Lang/Baumann für dessen funktionale und historische Dimension. Am Schauplatz ihrer Inszenierung stand früher eine Institution, in der die unterschiedlichen Bereiche von Öffentlichkeit und die unterschiedlichsten Repräsenta-tionen von Wirklichkeit aufs engste aufeinandertrafen. Hier waren Fakten und Fiktionen nebeneinander aufgereiht. Hier war das Veralten der Neuigkeiten tagtäglich ablesbar. Hier waren die grossen Ereignisse der Weltpolitik verfügbar und zugleich auf Distanz gerückt. Hier hatten die Schlagzeilen ihren Ort und warben um die Neugierde der Passanten. Hier winkte das Glück in Gestalt von Lotterielosen, und hier erfuhr man vom Unglück der anderen im Form von Katastrophenmel-dungen. "Inter will Roy" verweist darauf, dass diese Funktionen an diesem spezifischen Ort nicht mehr möglich sind, ohne dem nostalgischen Hang nach Vergegenwärtigung zu verfallen. "Inter will Roy" funktioniert zwar auf der Ebene des Monuments und richtet sich an diverse Adressaten unterschiedlicher Öffentlichkeiten, aber seine Botschaften sind zugleich derart ambivalent, dass die Arbeit als Ausgangspunkt von neuen Geschichten und Fiktionen verfügbar wird.
Wie die Schlagzeile und die Wirklichkeit dialektisch zusammenhängen, so haben Lang/Baumann auch "Inter will Roy" ein tatsächlich stattfindendes Ereignis gegenüber- gestellt, ein kleines, bescheidenes Fest: Zur Eröffnung der Ausstellung fand im Innern des Kiosks ein Tischfussballturnier statt. Dieses etwas altmodische Spiel entsprach der Schäbigkeit des Lokals. Es war zweifellos auch begrenzter und "artifizieller" als ein wirkliches Weltcup-Turnier und brachte weniger Menschen aus der Nachbarschaft zusammen als der Kioskalltag. Aber wie ein Modell hing es mit diesen beiden Wirklichkeiten dadurch zusammen, dass es einmalig war, vergänglich und unterhaltend und dass es sich in seiner eigenen Konsumption erschöpfte.

Für die derzeit wieder aktuelle Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum – was immer darunter zu verstehen sei – ist "Inter will Roy" von Interesse, weil es im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Projekten die "Ortsspezifik" nicht als etwas Statisches begreift, auf das mit räumlich fixierten Objekten zu reagieren ist, sondern als etwas, das historischen Veränderungen unterworfen ist und auf das spontan eingegangen werden kann. Der Ansatz von Lang/Baumann steht durchaus im Rahmen dessen, was James Meyer unter dem "funktionalen Ort" 1 versteht. Die beiden Künstler erkunden ihren Ausstellungskontext nicht bloss nach seinen strukturellen Dimensionen, sondern auch nach seinen erzählerischen und geschichtlichen Dimensionen und versuchen dynamisch darauf einzugehen. Sie bieten statt der langfristigen Möblierung und künstlerischen Landnahme des öffentlichen Raums eine kurzfristige Animierung. Statt eine a priori festgelegte Geschichte zu Ende zu erzählen, bieten sie Fragmente möglicher Anfänge.

Nach dieser Logik funktioniert auch ihr bisher erster Beitrag zur Kunst im öffentlichen Raum, "E 15" (Burgdorf 1996), eine Serie von Adverbien wie "alsbald", "dereinst", "soeben" und "demnach", welche am Beginn einer Geschichte stehen könnten. Die aus eingefärbtem Beton-guss entlang der Böschung einer kurvigen Strasse plazierten Wörter wecken die Neugier und versprechen zugleich nie zuviel. Denn in keinem Moment ist anzunehmen, dass die Autoren respektive Interpreten mehr wissen über die möglichen Geschichten als irgendein beliebiger Leser. Ja, die Vorstellung, dass die Betonklumpen des Rätsels Lösung enthalten könnten, ist von vornherein unmöglich. Diese Indifferenz enthält eine unterschwellige Kritik an jeglicher Art von autoritärer Präsenz. Noch deutlicher wird dieser Anspruch in "Undo" (Rom 1997), einer Installation aus aufgeblasenen Kunststoffkissen, die den Computer-begriff "Befehl rückgängig machen" raumfüllend darstellen. Hier wird der Akt der Löschung einer gerade begonnenen Markierung auf den Punkt gebracht und die Geste des provisorischen Anhebens, das sogleich wieder neutralisiert wird, um einem neuen Anheben Platz zu machen, verewigt – zumindest solange die Gebläse eingeschaltet bleiben.

Derartig unvollständige Erzählmuster werden in der Sprachwissenschaft als "elliptisch" bezeichnet. Und so erstaunt es nicht, dass die beiden Künstler die Ellipse in Form einer Spielzeugautorennbahn als Attribut zu ihren Doppelselbstporträts gewählt und damit eine Art paradoxes Markenzeichen geprägt haben. Wie die Modellautos stets die gleichen Schikanen passieren und sich unermüdlich in die immer gleichen Kurven legen, so bewegen sich auch die Inszenierungen von L/B auf präzise vorgezeichneten Bahnen. Ihre Vorliebe für leicht altmodische Materialien, für Spielzeuge und Modelle unterstreicht ihre Skepsis Perfektem und Selbstreferentiellem gegenüber. Dem spätmodernistischen Dogma des ewig Neuen entgegnen sie mit dem stets Verspäteten. Die "Entwicklungen", die "Zukunft" ihrer Figuren sind absehbar wie der Weg der bunten Rennwagen. Sie verlieren sich nicht in der Unendlichkeit. Sie riskieren nicht Kopf und Kragen. Geheimnisse bergen sie nicht. Ihre eigenen Versprechen holen sie stets wieder ein. Und man könnte stundenlang zuschauen.

Philip Ursprung


1 Vgl. James Meyer, Der funktionale Ort, in: Platzwechsel.
Ausstellungskatalog Kunsthalle Zürich: Zürich 1995, S. 24 - 39.
Vgl. ausserdem Miwon Kwon, One place after another:
Notes on site specificity, in: October 80, Frühling 1997, S. 85 - 110.