von Christian Bernard
Das Thema der Geste in der Malerei im Sinne der Geste des Künstlers oder der "Künstlergeste" verdiente es heutzutage in einen erweiterten Kontext gestellt zu werden und dabei insbesondere über den Begriff der gestischen Malerei im Rahmen des historischen Moments des abstrakten Expressionismus hinaus zu gehen. Die brushstrokes von Lichtenstein, die Bilder von Gesten waren, hatten die Feststellung des Sterbens der expressiven Gesten belegt. Ihre Reaktivierung durch Richter hat sie später wieder in den Kontext von Material und Bildfläche zurückgeholt, während aber ihr abgekühlter Charakter erhalten blieb, zitat- und ikonenhaft, um nicht zu sagen ironisch. Und man weiß, dass die drippings von Pollock mit ihrer aleatorischen Komponente wie eine indirekte Kritik an der heroischen Gestenhaftigkeit ihrer Zeit verstanden werden konnten, um hier nur einige logothètes zu erwähnen.
Wie dem auch sei, mit der Geste des Künstlers verhält es sich von nun an wie mit dem abstrakten Bild: Sie sind immer schon Bilder, entschlüsselte Trugbilder von anderen Gesten oder Bildern. Dieses gespiegelte Schicksal, dessen Bewusstwerdung sich Mitte der achtziger Jahre schon fast vollständig bis zum Stottern durchgesetzt hat, bedeutet in keiner Weise ein wie auch immer geartetes Ende der Malerei, sondern das Ende ihrer Unschuld oder zumindest das Ende eines romantischen Glaubens an ihre Unschuld. Da gibt es nichts zu bedauern, es liegt darin die Chance einer Leichtigkeit, einer entzauberten Freiheit.
Der wahre moderne Held ist antiaristokratisch (1) und der Maler des modernen Lebens ist in aller Seelenruhe prosaisch. Je mehr Gedächtnis er hat, desto weniger Trauer trägt er. Der Humor schützt ihn vor trügerischer Aufregung, die Gestaltungskraft der Geschichte entwaffnet ihn nicht. Obgleich die Perspektiven, die ihm die Geschichte eröffnet, schmal sind, taugen sie zur Ausübung seiner abgeklärten Souveränität. Wenn sie nicht zum mehr oder weniger naiven Aufwärmen alter Gerichte angewandt wird, scheint die angeblich "nicht gegenständliche" Kunst dieser Zeit, das was an ihr interessant geblieben ist, sich oft einer amüsierten Seelenruhe zu erfreuen, einer boshaften Intelligenz.
So verhält es sich in meinen Augen mit den aktuellen Arbeiten von Renée Levi. Von der Architektur her kommend, hat sich die Künstlerin der Malerei zugewandt und über Wege nachgedacht, sich von der ehrwürdigen Struktur des Gemäldes frei zu machen. Sie konzentriert sich beispielsweise auf die Faltmuster monochrom bemalter Kartons oder Papierblätter unterschiedlich disponiert, positioniert oder exponiert. Nebenbei wird dabei auch der konkret Ort greifbar in die Pflicht genommen. (Dely, 1992 1993; Vordemberge-Gildewart, 1994). Sie hinterfragt en passant die amüsanten readymade-Hilfsmittel wie richtige Tapeten oder bedruckten Stoff: Die "Malerei" ist überall, wo man sie findet und "betrachtet" (Bildfassade, 1996).
Renée Levi handelt ihrer eigenen Äußerung zuwider, indem sie den Raum durch eine üppige, monochrome Materialfülle einnimmt, die auf dem Boden zu lasteen scheint. Dass die Dreidimensionalität dieser Materialfülle nicht ausreicht, um daraus Skulpturen zu machen, liegt das an ihrer farbigen Gewalt, die sie in die Welt der Malerei einordnet (Red Cubes, 1994 1996). Reine Farbe, die sich fast selbst genügt. Die Frage nach der Beschaffenheit oder nach der Form verschwindet hinter der Frage nach der Oberfläche. Ob schief angeordnete Mosaike wie in Farbraum (1995) oder phosphoreszierende Bemalung in Simply Green (1996 1998), die Wand bietet einen Ort, der auf die Vorliebe der Künstlerin nach Farberfahrung ausgerichtet wird.
Was bleibt der Malerei, wenn sie sich selbst um das Objekt der Leinwand bringt oder um ihre Alternativen oder Derivate? Die Mauer, die Wand, die Fläche oder anders gesagt: die Grundelemente des Wohnens. Das Gemälde war in diesem Zusammenhang eine bewegliche Synekdoche. Was bleibt der Farbe, wenn sie sich der Farbtonvariation und Schattierung, der Glasur, der Grundierung, dem Strich oder Farbauftrag versagt? Die monadische Prägung, wie sie Toroni zur Auflösung der Gattungen verwendet hat oder die einsame monochrome Linie. In der Folge ihres analytischen Jauchzens sah sich Renée Levi neulich in der Situation des Mangels an einfacher Linienführung. Aber statt daraufhin auf das Spiel der Farbe zu verzichten, hat sie sich der Erfindung einer zeichnerischen Künstlergeste hingegeben als handle es sich um einen Neuanfang der Malerei selbst, mit geringerem Aufwand, aber ohne jegliche asketische Mystifizierung, einfach nur von der Zeichnung ausgehend. Durchsichtige Lösung eines uralten Konflikts.
Dieser entscheidende Moment scheint durch eine Reihe von Arbeiten vorbereitet worden zu sein: Gewisse Zeichnungen auf Papier (wie dieser orange Filzstift von 1995 in der Abbildung auf Seite 15), das Durcheinander von Fetzen, Bändern und Streifen aus farbigem, zerschnittenem Papier (23. November, 1995; Ball 3, 1997), die gedruckten Motive der Vorhänge in der Überbauung Dreirosen-Klybeck in Basel (1996) und vor allem die in einer Klinik in Zürich realisierte Wandarbeit Steps (1998-1999). Das dominierende plastische Element ist hier ein blauer Graffiti aus kursiven Verzweigungen, nervösen Kratzern, flüchtigen Streichungen und anderem verrückten Geflecht, übersät mit Tintenklecksen und -flecken. Man fühlt sich an Versuchsblätter von Füllfederhaltern erinnert, deren Zeichnungen zuweilen so atypisch und vom ästhetischen Standpunkt aus eigenartig und unbewusst aufgezeichnet werden, ohne als solche betrachtet zu werden. Sie entstehen einzig und allein in dem Bestreben, blind auszuprobieren wie das Schreibinstrument in der Hand liegt. Hier an der Wand ist der modus operandi seltsam und die Zeichnung nimmt nur durch die Vergrößerung Gestalt an: Doppelte Aktion der Übertragung.
Mit ihren Wand-Interventionen wie Stilleben (Zürich, 1999), Eyes (Basel 1999-2000), Passage jaune (Mouans-Sartoux, 2000) 3 x 4 m (Basel, 2000), Berman was here und Pera (Genf, 2000), Pera 2 (Basel, 2000) oder Clémentine (Paris, 2001) postuliert Renée Levi ein Dispositiv "von der Malerei zur Zeichnung", die einen beachtlichen Beitrag zur Debatte über die Möglichkeiten der Malerei zu Beginn des neuen Jahrhunderts darstellt. Eine drastische Sparsamkeit der Mittel charakterisiert diese Verfahrensweise: Den Untergrund stellt die Mauer des Ausstellungsortes dar, oder aber große Flächen aus dünnem Holz, die daran befestigt sind oder einen eigenen Raum im Ausstellungsraum bilden; die bearbeitete Oberfläche ist die der Mauern und Wände, oft in ihrer ganzen Ausdehnung. Die Farbe Rot, Orange oder Gelb, zuweilen fluoreszierend ist die der Linien der Zeichnung, flüchtig mit einer Spraydose aufgetragen, die man im Handel kaufen kann.
Man ist auf diese Weise dem Prozess des Graffiti oder des "tag" (2) näher als dem "Beruf" des Malers. Diese kategorische Option ist bedeutungsvoll: Hier gibt es keinen Fetischismus, keine Überbewertung des Arbeitsmaterials, keinen Zusatz zu den subtilen Eigenschaften der Farbe. Diese bewusste Einfachheit weist jede Art der Illusion zurück, diese offensichtliche Beschränkung kritisiert jede Zurschaustellung des Könnens. So ambitioniert sie auch ist, die Kunst von Renée Levi ist immer auch antiautoritär. Ebenso verhält es sich auch mit der Zeichnung selbst, die die fluide Entwicklung ihrer Pracht ununterbrochen zur Schau stellt.
Weder expressive Erschütterungen noch hysterische Seismologie: nur die Entwicklung von immer wieder neuen Linien, ruhiges Wachsen (kein lyrisches Pathos) oder sich windendes Wuchern (vgl. die Linienführung in der Runenschrift), sich annähernde patterns oder aufgepfropftes Füllwerk mit hinterhältig ungelenkem Bedauern, mit sorglosem Zickzack oder gedrehtem Aufblühen einfach nur der Lauf einer plastischen Träumerei, halb improvisiert, halb vorhersehbar, entfesselt und gelöst, nicht ohne Possierlichkeit wie ein Faden durch ihr Labyrinth. Aber der Humor ist hier eine ethische Höflichkeit. Man misst die subtile Dialektik von Erwartung und Gleichgültigkeit in den ausgewogenen Gesten ohne fühlbare Anstrengung, sozusagen ohne Erschöpfungserscheinungen (3), quasi im Müßiggang, neutral, langsam, bisweilen auch fast tänzelnd.
Sie initiieren eine besondere Art der Überlagerung, bei der das Weiß des Grundes mit der Lebendigkeit der gezeichneten Farbe, der farbigen Zeichnung aufs Heftigste interagiert. Daraus resultiert auch eine seltene Leuchtkraft, die den Raum um eine visuelle Fortführung der Malerei erweitert und beispielsweise die Ausdehnung farbiger Fülle in den Werken mit Leuchtstoffröhren eines Flavin ins Gedächtnis ruft.
Nicht von ungefähr hat die Künstlerin den Begriff Farbraum für eine ihrer Interventionen gewählt.
Die Sorgfalt, die der Behandlung der Nahtstellen in den Ecken oder dem Nebeneinander der Panneaux entgegengebracht wurde, zeigt übrigens auch eine rhythmische Intention, eine große Sensibilität für die klassischen Probleme der Kanten, Ränder und Grenzen. Das Mauerwerk erinnert sich diskret an die Zwänge, unter denen das Gemälde steht. Seine offene Weite wird nicht uferlos und bleibt in angemessener Maßstäblichkeit zur Architektur. Es bleibt eine klare innere Struktur bestehen. Der Ort der Arbeit vermischt sich nicht mit der Arbeit des Ortes, er behält sich immer eine ausreichende Autonomie der Komposition vor.
Man beginnt zu begreifen, wie weit wir hier vom Dogma der formalen Reduktion und vom "totalen Loslassen" gewisser post-moderner Demissionen entfernt sind, wie weit entfernt vom Krämerladen der Franchise-Nehmer der Generation nach Richter. Nach dem Beispiel so unterschiedlicher Künstler wie Bernard Frize, Bernard Piffaretti oder Christopher Wool (die am Gemälde festgehalten haben) konnte Renée Levi in ihrer Künstlergeste im Spiel mit den paradoxen Mitteln der Stärke des Schwachen eine wahre "Nord-West-Passage" zu einem neuen Umgang mit der Malerei finden: distanziert, ernüchtert, ungetrübt und in ihrem Fall erweitert um den Raum des Betrachters.
1 / Über dieses Thema gibt das schöne Buch von Antonia Birnbaum Aufschluss, Nietzsche. Les aventures de lhéroïsme, Paris, Payot, 2000.
2 / Aber die Graffitis von Renée Levi bilden das Gegenteil der Signatur, dieser autotautologischen Schrift, die die meisten "tags" auszeichnet.
3 / Was nicht bedeutet, dass die Regelmäßigkeit der Linienführung hier nicht das Ergebnis eines technischen Könnens und einer physischen Anstrengung wäre.
aus dem Französischen von Dorle Ellmers
aus dem Katalog:
Renée Levi. Kill me afterwards
Verlag für moderne Kunst Nürnberg
Museum Folkwang Essen
2003