Rayelle Niemann

Von Aussen und Innen

Aus der Differenz von Realität und Fiktion werden Kunstwerke geschaffen, denen in geschützten Räumen Eigenleben zugestanden werden. Die Arbeiten verweisen auf analytische, spielerische Aufarbeitungen erfahrener Wirklichkeiten. Dabei wird gesellschaftskritischen Positionen ein besonderer Stellenwert zugeordnet. Verunsicherungen gegenüber ideellen Werten und verlorenes Vertrauen in Politik und Wirtschaft tragen dazu bei, dass heute fliessende Grenzen zwischen Kunst und Leben als etablierter Bestandteil der Kunst verortet sind. Mit diesem Hintergrund sind auch die Arbeiten von Costa Vece zu lesen. Seine formalen Umsetzungen und die Auswahl der Materialien zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung mit historischen Bezügen und aktuellen gesellschaftspolitischen Realitäten.

Geschichte
Wie radikal die Geste in den sechziger Jahren war, sich in der künstlerischen Umsetzung und bei der Auswahl des Materials von einem erhabenen Kunstanspruch abzuwenden, um eine künstlerische Sprache gesellschaftlicher Kritik zu entwickeln, ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Kunstschaffende stellten sich ab Mitte der sechziger Jahre mit ihren Arbeiten einer sich durchsetzenden Konsumgesellschaft entgegen. Banales wurde zum Kunstwerk erhoben. Mit der bewussten Einsetzung von alltäglichen, kargen und teils flüchtigen Materialien starteten sie eine Offensive des ästhetischen Verzichts und eröffneten damit eine neue Prozesshaftigkeit in der Kunst. Exemplarisch fand dies Ausdruck in der von Germano Celant postulierten Arte Povera. Sie antwortete mit Arbeiten, die für Selbstbestimmung, Unabhängigkeit vom Markt und autonome Handlungen standen, auf eine Gesellschaftsform, die versuchte, die Menschen in das engmaschige System suggerierter Bedürfnisse einzubinden. 1967 formulierte Celant die Hoffnung der Arte Povera als eine Geste der Befreiung von Konsumwünschen: „Vom Ausgebeuteten wird der Künstler zum Guerillakämpfer, will den Ort der Schlacht selbst bestimmen, die Vorteile der Beweglichkeit nutzen können, überraschen und zuschlagen, nicht umgekehrt.“ 1
Diese euphorischen Worte mögen aus heutiger Sicht naiv und befremdend erscheinen, doch war die politische Ordnung der Welt eine andere. Deshalb unterscheiden sich auch heutige Strategien im Kampf um eine bessere und gerechtere Welt. Zwei sich bekämpfende Ideologien, Kommunismus und Kapitalismus, standen sich damals gegenüber und teilten die Welt in zwei Blöcke. Der Krieg gegeneinander wurde auf beiden Seiten mit allen Mitteln geführt. Es herrschte ein Klima von Bedrohung und Angst. Gleichzeitig war es eine Zeit des grossen gesellschaftlichen Aufbruchs, vor allem in Europa und Amerika. In Europa stellten die Studentenbewegung und die Arbeitenden in den Fabriken bürgerliche Werte und politische Machtstrukturen in Frage. Der Vietnamkrieg vereinte viele Menschen im solidarischen Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus und für mehr Frieden auf der Welt. Wendell Phillips schrieb bereits 1849 in London: „(...) When will Americans learn, that if they would encourage liberty in other countries, they must practise it at home?“ 2
Die damals erkämpften Freiräume und Gegenwelten überlebten teilweise bis heute, und die dabei gemachten Erfahrungen und Einsichten sind aus dem heutigen Verständnis gegenüber der Welt nicht wegzudenken.

Die Welt
Die Idee, unter anderem Dank technischer Entwicklungen, die Welt in ein globales Dorf zu verwandeln, wurde in den späten achtziger Jahren von Intellektuellen und KünstlerInnen dankbar aufgenommen. Sie versprachen sich eine weltweite Demokratisierung und Überwindung nationaler Grenzen. Dass das Potential global vernetzter Infrastrukturen vor allem multinationale Firmen für ihre Ziele nutzen, um durch billige Produktionsstandorte und mit sich neu eröffnenden Absatzmärkten Gewinne zu akkumulieren, hat den Traum wie eine Seifenblase platzen lassen. Ernüchternd ist die Erkenntnis, dass die internationale Öffnung des Warenmarktes nicht im Interesse des einzelnen Menschen geschah, sondern die Gewinnmaximierung transnational operierender Konzerne und deren Shareholder zum Ziel hat. Wirtschaft und Politik verfolgen nicht den Weg der kulturellen Inspirationen, sondern handeln meist in der Tradition kolonialen Denkens. Strukturen heutiger Eroberungsstrategien, verpackt in eine Rhetorik gegen Terrorismus und Fundamentalismus, basieren weiterhin auf der Formel, dass die, die zu erobern und zu „befreien“ sind, im Zeichen einer „Minderwertigkeit“ stehen. Daran hat sich seit dem späten 19. Jahrhundert nichts geändert. Joseph Conrad schrieb damals: „(...)The conquest of the earth (...) is not a pretty thing, when you look into it too much. (...) It involves taking land and goods away from people, who have “flatter noses” and darker skin than ourselves.“3

Das Zusammenrücken der Welt mag sich medial, verkehrstechnisch und logistisch realisiert haben. So schauen heute 1,5 Billionen Menschen rund um den Erdball gleichzeitig das Endspiel einer Fussballweltmeisterschaft. Produkte multinationaler Konzerne sind in den entlegensten Winkeln aller Kontinente zu kaufen. Aber das Spannungsfeld von Arm und Reich wurde dadurch nicht kleiner, eine gerechtere Ver- oder Umverteilung von Gütern und Gewinn vielfach nicht erreicht.
Die in den vielen Katastrophengebieten und Krisenherden benötigten Unterstützungen der Entwicklungshilfe tragen die Gefahr in sich, mit ihren internationalen Programmen lokale Wirtschaftstrukturen zu schwächen, Menschengruppen in neue wirtschaftliche Abhängigkeiten zu binden und sie wieder in die Vergessenheit zu entlassen.
Die einstigen Festungen fortgeschrittener Kapitalgesellschaften halten dem Strom derjenigen, die aufgrund der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Zustände in ihren Heimatländern gezwungen sind auszuwandern, nicht stand. Die Umsetzung ökonomischer und sozialer Integration dieser Menschen zeigt sich immer mehr als grosse Herausforderung vieler westlicher Länder. Ein Umdenken aller Beteiligten und eine Veränderung der Politik auf verschiedenen Ebenen wäre erforderlich, um in der Durchmischung von Kulturen eine gegenseitige Bereicherung zu sehen und zu erreichen. Knapp werdende Ressourcen und Arbeitsplätze sowie die Aushöhlung von Sozialsystemen in Europa gehen einher mit dem Ruf nach undurchlässigeren Grenzen von Nationalstaaten. Fragen nach nationaler Herkunft und Klassenzugehörigkeit wird wieder eine aufflammende Dringlichkeit entgegengebracht. Jedes Zeitalter und jede Gesellschaft rekonstruiert ihr „Anderes“. „(...) Weit entfernt von Statistiken ist Identität eines „Selbst“ oder des „Anderen“ vielmehr ein ständiger überarbeiteter geschichtlicher, sozialer, intellektueller und politischer Prozess, der als Wettkampf Individuen und Institutionen aller Gesellschaften gleichermassen einspannt (...).“ 4

Nationale Flaggen, behelfsmässig aus gebrauchten Kleidern mit Sicherheitsnadeln zusammengehalten, sind in vielen Arbeiten Costa Veces vertreten. Sie stehen hier für Gesellschaften, die sich über die Vorstellung gemeinsamer Vorfahren und der Angst gegenüber Nachbarn definieren. Die Irrationalität einer solchen Gemeinschaft steigert sich in Ausländerfeindlichkeit und sinkender Toleranz gegenüber „den Anderen“. Paradigmen eines gepriesenen Internationalismus verwässern im wechselseitigen Verhältnis von Ausgrenzung und „Flagge zeigen“.

Heute, hier und dort
In Auflehnung gegen die herrschende Politik und Ökonomie nimmt die Rückführung von industriell gefertigtem und wertlosem Material in aktuellen Kunstproduktionen eine differenzierende, reflektierende Haltung für sich in Anspruch. Die integrierte Analyse der Bedeutung von Reproduzierbarkeit lässt heute weniger auratische Werke entstehen als zu Zeiten der Arte Povera. Wirklichkeitsnah und poetisch zugleich kondensiert Costa Vece in seinen Installationen Bilder von Wut und Verzweiflung. Inseln revolutionärer Gewalt sind aus Stacheldraht, Sperrmüllbrettern, Wellblech, Ölfässern, ausgebrannten Autos gebaut, Zeugen von Barrikaden und Kampf. Diese inszenierten, situativen Momente - für Menschen rund um den Globus realer Alltag - richten ein Augenmerk auf die, die um ihr Recht auf Selbstbestimmung und Anerkennung kämpfen. Doch sprechen sie auch von der Ohnmacht beim Versuch, sich gegen internationale Machtstrukturen zu behaupten. Die Installationen des Projektes RevolucionIPatriotismo sind für BesucherInnen nicht begehbar. Sie bieten keinen Einlass, weisen ab. Sie drücken Isolation und Ausweglosigkeit aus. Statt beweglich zu bleiben, gefriert der Protest zu einer statischen Kulisse, die Spuren menschlicher Patina trägt. Sie erzählt von der Auflehnung gegen Fremdbestimmung und visualisiert eine immer wiederkehrende Austauschbarkeit einer endlosen Geschichte auf allen Kontinenten. Der Titel Revolucion/Patriotismo erinnert daran, dass Freiheitsbestrebungen und reaktionäre Politik oft eng beieinander liegen.

Trotzige Melancholie schwingt mit, wenn der Künstler sein Gesicht in das Portrait des Freiheitskämpfers projiziert. Es reflektiert eine sehnsüchtige Nostalgie, der die Realität zynisch die Zunge herausstreckt. Symbole einer Guerilla, fern der Orte revolutionärer Kämpfe, entleeren sich ihrer Inhalte und verkommen zu marktgerechten Illusionen von Abenteuer und Freiheit. Das Bild von Che Guevara auf T-Shirts und Servietten gleicht den an mit Einschusslöchern versetzten Häuserwänden und Bretterverschlägen gesprayter Portraitschablonen gefallener Märtyrer in Gaza oder Südamerika. Doch öffnet sich ein Graben zwischen realen existentiellen Bedrohungen und schickem Lifestyle. Eine Wolke der Tristesse verlorener Revolutionen, gefallener Träume kämpferischer Ideen und Ideale schiebt sich auch hier vor aktivistische Personifizierungen.

Von Hütten und Zelten
Im Kunstkontext gefertigte Hütten aus Pappkartons und Brettern stehen als Sinnbild für die Cardboard-Cities und Shanti-Towns, rhizomartig wuchernde informelle Siedlungen an den Marginalen moderner Metropolen.
In seinen neuen Arbeiten greift Costa Vece auf das Bild des Zeltes zurück. Doch steht das Zelt nicht als Bild für romantische Ferien und kindliche Spiele 5, noch verweist es auf die Authentizität nomadischer Kulturen, die sich auf Freiheit, Unabhängigkeit und flexible Mobilität gründen. Es erinnert uns an globale Katastrophen. Wuchernde Zeltstädte weltweiter Flüchtlingslager, ein als Provisorium gedachter Zustand, sind für Millionen von Menschen seit Jahren alltägliche Realität.
Das Zelt, ausgestattet mit minimalen Attributen westlicher Zivilisation, Sesseln, einer Lampe und einem Tisch, wird zum Schutzraum, der vermeintliche Geborgenheit bietet. Der Fernseher, zusätzliche Lichtquelle und Zeichen der Verbindung zur Welt, verklärt sich als Fiktionsinstrument. Als ob die Wirklichkeit besser zu ertragen wäre, wenn sie mit dem Satz „wie in einem Film“ erklärt wird. Die Flucht in Fantasien und Stoffe, aus denen Träume sind, mögen für Momente ein Ausweg sein, doch der klaustrophobische Zustand ist nur temporär zu vergessen. Bilder der sich wiederholenden Katastrophen versprechen kein Entkommen aus der Realität, sondern flimmern wie die Schatten der angeketteten Menschen im Schein des Feuers in Sokrates’ Höhlengleichnis über den Bildschirm.

Die Nationalflaggen, aus denen Costa Veces Zelt gebaut ist, vertreten symbolisch Menschen aus nicht europäischen Ländern. Sie bilden die Heerscharen der ImmigrantInnen, AsylantInnen und „Illegalen“, die oft in ausbeuterischen Produktions- und Dienstleistungsverhältnissen ihre Existenz fristen und sich im Graubereich von Gesellschaften bewegen; weder hier noch dort gewollt.
Die ausrangierten Socken, T-Shirts, Jeans und Jacken, aus denen die Flaggen zusammengeheftet sind, geben Hinweise auf ihre globalen Herstellungsorte, die sich oft mit Adressen auf Hilfspaketen decken. Krisengebiete wie Kaschmir, Darfur, Kukuma, Bangladesh, Thailand oder brasilianische Favelas liegen in unmittelbarer Nachbarschaft billiger Produktionsstätten. Der Kreis der Warenzirkulation schliesst sich und mündet in der Umnutzung für die Konstruktion eines Kunstwerkes.

Das Zelt steht für Hoffnung und Fluch gleichermassen. Intimität kann es nur sehr begrenzt bieten. Der Schutz vor extremen Wetterlagen und vor sich selbst bleibt eine Frage relativer Ermessung. Eine Rettung aus der Trostlosigkeit kann jedes noch so kleine Zelt, jede noch so ärmliche Hütte in sich bergen. Es steht im Zeichen der Kraft der Menschen, nichts auszulassen, was die Wiederherstellung der Würde vorantreibt.
Der Fluch ist, dass geplante Übergangslösungen ein bleibender Zustand für viele geworden ist und weiterhin sein wird. Ist das Elend einmal aus der medialen Aufmerksamkeit verschwunden, sinkt das Interesse und die Hoffnung, diese Zustände zu verbessern. Nachhaltige Optimierungen der Lebensumstände erfordern auch Veränderungen politischer Strukturen und ökonomischer Interessen.

Zeltwände bewegen sich im Wind, halten einiges fern, sind für anderes durchlässig.
Die Welt „da draussen“ ist immer ein Teil darin.


@Rayelle Niemann, Cairo, April 2006



Literaturverweise

1 Germano Celant: Arte Povera. Appunti per una Guerriglia, in: Flash Art, Nr. 5, Mailand Nov./Dez. 1967, S. 3

2 Paul Robeson: Here I stand, Kapitel Our Right to Travel, 1958, Beacon Press, Boston, 1988

3 Joseph Conrad: Heart of Darkness, 1902, New York, Penguin, 1999

4 Edward Said: Nachwort zur 2003 erschienenen Neuauflage von Orientalism, New York, Penguin/Routledge and Kegan Paul Ltd, 1978, S. 332ff

5 vergl. Michel Foucault: Die Heterotopien, France Culture, 1966, Suhrkamp 2005



Publiziert im Katalog
Costa Vece. Dark Days, Kunstmuseum Solothurn
edition fink, Zürich
ISBN 3-906086-95-x