Rayelle Niemann

"Wege zum Glück – de Waan"
eine Ausstellung von Edu Kismann
de Oude Kerk, Amsterdam, März/April 2000

Bereits in früheren Ausstellungen befasst sich Edu Kisman mit Themen, die die Spaltung der Einheit von Täter und Opfer untersuchen. Historische und gesellschaftliche Fakten waren wichtige Grundlagen für seine Arbeiten, um sich dem komplexen Thema anzunähern. Diesen Zyklus schliesst Edu Kisman nun ab mit der Ausstellung «Wege zum Glück 9 - de Waan». Er kreist dabei die Dychotomie von Täter und Opfer sehr eng ein und geht von einer Situation aus, in der die meisten das erste mal mit Beziehungsstrukturen konfrontiert werden, der Familie.
Die Ausstellung öffnet den Blick auf eine Spirale, einen zwingenden (zwanghaften) Prozess, in dem Kinder sich nicht aus sich selbst heraus konditionieren, sondern in ihrer Entwicklung beeinflusst werden von emotionalen Erfahrungen anderer und ihnen vorgegebenen Bestimmungen.
Der Ausstellungstitel «de Waan» ist in diesem Zusammenhang zweideutig zu verstehen. Zum einen stellt er einen Bezug zu Erinnerungen her, die aber nicht ohne weiteres überprüfbar sind. Erinnerungen aus der Kindheit sind oft ein Konglomerat aus ungenauen verschwommenen Gefühlen und Bildern, deren Ueberprüfung am Schweigen der Beteiligten scheitern. Zum anderen stellt «de Waan» die Familienstruktur, verstanden als Eltern-Kind-Einheit, als solche in Frage. Familiäre Beziehungsmuster, gegenseitige emotionale, psychische Beeinflussung und Abhängigkeit der Familienmitglieder sind somit der Wahn per se. Die Auflösung dieser Kette ist der Tod, die Auslöschung der Familie.

Die Familie kann ein Schoss sein, ein Käfig, ein Schloss, ein Gefängnis.
Die Familie ist aber vor allem ein System, das durch die Rollen einzelner Personen geprägt ist und sich nach innen definiert, in Abgrenzung zum Aussen. Das «wir» ist eine wichtige Identifikation für Familien, ist immer besonders, im Vergleich zu Anderen.
Der sich daraus entwickelnde Wiedererkennungeffekt innerhalb einer Familie ist ein angelegtes, gewünschtes, oft mit Tabus und Geheimnissen einhergehendes Ziel, wobei jedes Familienmitglied die Familie nochmals für sich selbst definiert und erlebt. Die Intimität in einer solchen Gemeinschaft stützt sich auf Strukturen und Muster, die einen sehr unbewussten Charakter haben. Sie werden gelebt, weitergegeben, als selbstverständlich betrachtet. Das Verhalten hat keine reflektierende Sprache, findet Ausdruck im
Handeln und behandelt werden, im Agieren und Reagieren, ohne dass es weder für die Eltern noch für die Kinder eine Möglichkeit gibt, sich losgelöst von der sich entwickelnden Dynamik aufeinander zu beziehen.
Die grossen Hoffnungen, die sich mit einer Familienbildung verbinden, für das Wohl des Paares als auch für das zukünftige Leben der dazugehörenden (blutsverwandten) Kinder, lassen sich nicht immer einlösen. Nicht nur projizierte Wünsche, die für ungelebtes Eigenes der Eltern stehen, auch emotionale Hilflosigkeit und Ueberforderung sowie wachsender ökonomischer Druck etablieren konfliktreiche Situationen. Die unverarbeitete Kindheit der Eltern, uebernommene, unreflektierte Verhaltensmuster und der Wunsch nach «Wiedergutmachung» an den eigenen Kindern führt zu einer Verstrickung emotionaler Art, die sich zwar intellektuell erschliessen, doch seelisch schwer auf- und verarbeiten lässt.
Hier kommt die Spaltung der Einheit von Täter und Opfer zum tragen, da Eltern selbst Produkt sind von Verhaltensmustern anderer, geprägt von ausgesprochenen und unausgesprochenen internalisierten Wertvorstellungen und Erwartungen. Eltern sind Kind, Tochter und Sohn von ebensolchen Töchtern und Söhnen. Ihre Tabus, Geheimnisse, unverarbeiteten Erlebnisse und Visionen für eine andere, hoffnungsvolle Beziehung bestimmen die Paardynamik und somit auch die Entwicklung des Kindes, das seinerseits die gemachten Erfahrungen innerhalb dieser Beziehung in Beziehungen ausserhalb der Familie weiterlebt und moduliert. Selbst diejenigen, die sich emotional und geistig weitergebildet haben und bewusst und kritisch der Familiensituation gegenüberstehen, scheitern an ihren eigenen Ansprüchen, dem gesellschaftlichen Druck und den über viele Generationen weitergegebenen, tief verwurzelten seelischen Schmerzen, die nie eine Auflösung fanden.
Wie auswegslos sich diese Spirale dreht, wird deutlich, wenn geschichtliche Ueberlieferungen über Familienstrukturen und Kindererziehung in Betracht gezogen werden. So wurden und werden Kinder immer wieder geopfert, missbraucht, sei es sexuell, als kleine Erwachsene, als Lückenfüller in einer nicht befriedigenden Beziehung, als Arbeitskraft, als Verkörperlichung des Teuflischen. Religiöse Vorstellungen, gesellschaftliche wie ökonomische Notwendigkeiten und Lebensphilosophien legitimieren und sanktionieren diese Vorgehen. Sie wurden/werden nicht von
Feinden und Fremden begangen, sondern von denen, die die Kinder produzieren und «lieben». Es ist erstaunlich, wie weit Projektionen auf Kinder und seelische wie körperliche Misshandlungen an ihnen reichen, sind sie, die Kinder, doch ausschlaggebende Faktoren für die Reproduktion der Menschheit und somit bestimmend und tragend für die Zukunft, die heute und gestern beginnt. So ist es auch bemerkenswert, dass ein Gesetz für den Tierschutz wesentlich früher entwickelt wurde als ein Gesetz zum Schutze von Kindern.
Neben Horror bietet die Familie Schutz, Wärme, Geborgenheit. Die lebenslange Verstrickung und nicht zu leugnende Beziehung zu Eltern, Verwandtschaft und weiter zurückreichenden Generationen wird von den einen glorifiziert, von den anderen als notgedrungenes Uebel angesehen. Das Kind hat die Möglichkeit, sich in Verbindungen ausserhalb des Elternhauses auszuweiten, sich auszuprobieren und das, was es von den Eltern gelernt hat, als positive Unterstützung zu empfinden. Im besten Fall. Andere wiederum erleben familiäre Verbindungen als traumatisch, kämpfen gegen psychische Strukturen an, die sie als belastend empfinden und mit denen sie in den von ihnen gewählten Beziehungen wieder konfrontiert werden.
Die Familie als Phantasiekonstrukt, in dem Einheit und Harmonie zu Hause ist, steht sich selbst im Weg. Die Gemeinschaft zerfällt in einzelne Teile, in Individuen, die ihre eigenen bewussten und unbewussten Geheimnisse und Ungereimtheiten in die Gemeinschaft einbringen, in der wieder neue Geheimnisse entstehen. Die gute Familie hat ihre Tabus, die schlechte Familie weiss sie nicht zu schützen.
In der Bilderfolge von Edu Kisman, die durch die wechselnden Perspektiven an Filmsequenzen erinnert, reihen sich letzte Augenblicke einer ausweglosen Familiensituation aneinander. Der Druck der Geheimnisse und Tabus ist nicht mehr zu halten, platzt auf, entleert sich, emotionale Zerbrechlichkeit transformiert sich in Gewalt. Die Arbeitstechnik der Gemälde materialisiert diesen psychischen Prozess auf anschauliche Weise. Durch die Schicht für Schicht aufgetragene weisse und schwarze Oelfarbe, die farbigen Pigmenten als Träger dient, wird eine Oberflächenspannung erreicht, die an einzelnen Stellen zu unkontrollierbarem Aufplatzen führt.

Rayelle Niemann, Zürich im Dezember 1999