Rayelle Niemann

Ich sehe was, was du (nicht) siehst

Zwei fotografische Serien von Ulrike Kuschel


Fotografien sind Dokumente und Anlass für kollektive und private Erinnerungen, wobei das Lesen dieser Bilder je nach Standpunkt und Intention unterschiedlicher oft nicht sein kann, unabhängig vom ursprünglichen Entstehungsmoment und -gedanken.
Gleichzeitig wird der „politischen Fotografie“ eine verstärkte Aufmerksamkeit mit dem allgemeinen Interesse am Dokumentarischen in der Kunst gewidmet, wobei sich die Arbeiten oft nicht von Werken des Fotojournalismus unterscheiden und beide Authentizität für sich in Anspruch nehmen.
Die „Wahrhaftigkeit“ von Bildern ist jedoch mit den Möglichkeiten von Digitalisierungstechniken einerseits schwerer denn je zu kontrollieren, andererseits werden wir einer Bilderflut ausgesetzt, die eher für Abstumpfung sorgt, als dass sie den Geist und die Sinne bereichert. Selten sind Bilder, die durch ihre sensible Einfachheit überzeugen und sich dem Lauten entziehen.

In der vierteiligen Serie „Neue Wache Berlin“ (2005) unterläuft Ulrike Kuschel mit einfachen Mitteln übliche Strategien. Sie zeigt uns das Banale im Grossen, sie führt uns über den Titel der Serie auf etwas, das wie beiläufig am Rande mit im Bilde ist. Für Nicht-Kenner der Örtlichkeiten und der deutschen Geschichte sind Arbeiter auf einer Baustelle zu sehen, die alte Eisenrohre mit Hilfe eines Baggers entsorgen. Ganz normaler Alltag in einer Großstadt. Am linken Bildrand sind Säulen eines klassizistischen Gebäudes zu erkennen, das auf diesen Fotos zur Kulisse für die Arbeiter wird. Geschichtlich betrachtet ist das Verhältnis jedoch genau umgekehrt. Die Neue Wache steht an exponierter historischer Meile - Unter den Linden in Berlin – , und diente vor allem der Repräsentation kaiserlicher Macht seit ihrer Erbauung durch Karl Friedrich Schinkel 1816-1818 als königlich-kaiserliches Wachlokal. Seitdem ist der Bau architektonischer Zeuge der Entwicklung des deutschen Staates und der Mahnmalkultur verschiedener politischer Systeme.
Mit geschicktem Verschieben der Perspektive vom „Wesentlichen“ auf das so genannte „Unwesentliche“ gelingt es Ulrike Kuschel, eine Analogie zur Prozesshaftigkeit von Architektur und ihrer Nutzung herzustellen. Ideologische Veränderung und Werteverschiebungen gehen einher mit geistigem Umgraben und Entfernen von nicht mehr Gewünschtem, nicht mehr Tragbaren. Namenlose Arbeiter stehen hier exemplarisch für eine Materialisierung dieses Vorgangs.

Anders verhält es sich in der Fotoarbeit „Santorini“ (2002), gleichwohl auch hier die Anonymität der Menschen im Bild zentral ist. Doch ist es kein von Menschenhand geschaffenes Gebäude, vielmehr sehen wir ein von der Natur geschaffenes „Monument“ – bis zu 300 Meter ins Meer abfallende Steilküsten vulkanischen Ursprungs, ein beliebtes Ausflugsziel und Motiv für ein Urlaubsbild. Die Leute auf den Bildern scheinen sich unbeobachtet zu fühlen, sie sind mit ihrer Urlaubsmission beschäftigt, zu genießen und sich am Ort des Naturwunders zu dokumentieren. Das Private, das Besondere wird aufgelöst durch eine unendliche Multiplikation solcher Fotos, die weltweit in Schachteln und Alben verschwinden.
Das Belanglose, Alltägliche daran erfährt auf den Fotos von Ulrike Kuschel eine Entfremdung: künstlich gruppiert muten die Akteure an, eine inszenierte Situation vor dem Objekt der Begierde, das diskret im Hintergrund bleibt.

©Rayelle Niemann, Zürich, Juli 2006