Hans Renggli

Das Malen ist einfach eine Lust

Mit der Ausstellung "Das Gedächtnis der Malerei" realisiert das Aargauer Kunsthaus ein gigantische Liebeserklärung an die Malerei des 20. Jahrhunderts. Bis 19. November


Der enorme Aufwand des Hauses hat sich gelohnt. Die Ausstellung ist ein wahrer Festschmaus der Malerei geworden. Sie schickt den Besucher auf einen kaum enden wollenden Parcours, der ihn bald einmal in einem Strudel der Empfindungen und Gefühle fortreisst. Mit Farbe, mit Material, mit barocker Fülle wirbt und schockiert da nichts als Malerei. Selbstbewusst und dreist, in allen denkbaren Variationen, lockt sie die Seele aus der Reserve, um zu beglücken, zu verführen, zu gängeln und zu pieken. Statt mit intellektueller Blässe elitär zu distanzieren, rücken die Kunstvermittler dem Publikum für einmal so zärtlich wie derb auf den Leib, mit der einzigen Absicht, das oft gefällte Urteil vom Tod der Malerei als einen lächerlichen Mythos zu entlarven. Da bleibt kein Zweifel: Die Malerei lebt und ist so vital bei Kräften, dass sie uns mit Sicherheit noch lange überleben wird.

Mit dem vorgezeichneten Tod des Individuums hat auch die gedankliche Grundlegung zu tun, die das Grossprojekt inspiriert hat. Ohne die Endlichkeit, die uns die Zeit aufzwingt, gäbe es das Gedächtnis nämlich nicht. Individuell und kollektiv entspricht es einer Leistung, die Verlorenes aufhebt, um es irgendwann ins Bewusstsein zurückzurufen und wieder zu beleben. Was dann zutage tritt heisst Erinnerung. Nun war es die Idee von Museumsdirektor Beat Wismer und seiner Mitarbeiterin Sibylle Omlin, den Begriff Gedächtnis als Metapher für die Malerei zu verwenden. Entsprechend lautet ihre These: "Die Malerei speichert die Erinnerung dauerhaft in Bildern". Den Tatbeweis soll statt abstrakter Theorie, die Malerei selbst erbringen durch ihre kraftvolle Vergegenwärtigung in einer geballten physischen Akkumulation. Wismer verweist dabei auf die Differenzierung des Begriffs der Malerei im Englischen, wenn es "Image" und "Painting" unterscheidet. Nicht von Bildideen will die Ausstellung handeln, sondern von Painting als der unmissverständlichen, körperlichen Realität der Malerei.

Entsprechend der konzeptuellen Betonung des sinnlichen Aspekts wurde auch die begleitende Buchpublikation nicht als kunstwissenschaftlicher Katalog sondern als Lesebuch gestaltet. Mit Ausnahme des knappen Vorworts kommen keine Kunsthistoriker zu Wort, dafür umso mehr die Dichter und Künstler. Die Texte handeln von individuellen Begegnungen, Wahrnehmungen und Erlebnissen mit der Malerei, viele verfasst von Malerinnen und Malern, die in der Ausstellung vertreten sind. Die ausgestellten Gemälde erscheinen in den eingeschobenen Bildteilen bewusst klein abgebildet als reine Gedächtnisstützen. Damit wird klargestellt, dass die Reproduktion das physische Erlebnis der Begegnung mit den Originalen in keiner Weise ersetzen kann.

Wie das Buch verweigert sich auch die Ausstellung explizit einer chronologischen Aufzählung. Thema ist zwar die ganze Malerei des Jahrhunderts von Cézanne bis zu aktuellsten jungen Malerinnen und Malern. Doch die 250 Werke - viele von höchstem Rang - wurden weitgehend intuitiv gewählt und zusammengestellt. Statt einer Auflistung von Stilen und Ismen, soll die Malerei in wilden assoziativen Bezügen als Phänomen der kulturellen Erinnerung plausibel gemacht werden. Kein Zweifel, dass sich die Kunsthistoriker mit diesem Konzept auch selbst ein Geschenk machten. Befreit von der Disziplin ihrer Wissenschaft, durften sie sich selbst als Dichter und Künstler versuchen. Wismer steht die bübische Freude ins Gesicht geschrieben, wenn er gewagte Kombinationen herausstreicht wie die Assoziation von Kandinsky und Hodler, von Jawlensky und Meyer-Amden, von Ensor und Twombly . "Ping-Pong-Geschichten" nennt er sie.

Der Parcours beginnt im Erdgeschoss mit einem Prolog. Um den Wegbereiter Cézanne scharen sich Bilder von Bonnard, Hodler, Mondrian, Kandinsky, Matisse, Macke und Valloton. Die Verwandtschaften zwischen Holder und Mondrian hatte das Haus bereits vor zwei Jahren aufgezeigt. Mit einem Bild, das Hodlers "Niesen" kompositionell praktisch nachvollzieht, gesellt sich nun überraschend auch Kandinsky dazu. Die drei funktionieren als Weiche für die in den folgenden Räumen ausgebreiteten "Bahnungen", die sich durch das ganze Jahrhundert ziehen: Expressionismus/Figuration (Hodler), lyrisch-gestische Abstraktion (Kandinsky) und geometrisch-konstruktive Abstraktion (Mondrian) .

Entsprechend folgt ein expressionistischer Raum mit Bildern der Brückekünstler, zu denen auch der Schweizer Amiet gehörte. Vor allen beeindruckt Nolde. Dazu kommen Munch, Schiele, Gerstl, Giovanni Giacometti. Ein anderer Raum repräsentiert figurative Malerei im Sinn von "Pictures" mit ihren notorischen Themen Stilleben, Porträt, Landschaft und Clown. Vertreter sind Picasso, Beckmann, Picabia, Rouault sowie die Schweizer Robert Schürch, Auberjonois und die Giacomettis. Dann wirds mit Malewitsch, Theo Van Doesburg, Delaunay, Mondrian und Alice Bally ernst mit der Vernachlässigung des Gegenstands. Erste geometrische Positionen zeichnen sich ab, die dann in einem Geometrie-Raum ausgebreitet werden, der von Schweizer Künstlern dominiert wird: Lohse, Glarner, Graeser und Bill neben dem Frauen-Dreigestirn Sophie Taeuber-Arp, Verena Loewensberg und Bridget Riley. Der folgende Raum wechselt den Kontinent und vergegenwärtigt die nochmalige Radikalisierung der Reduktion auf grosser Fläche bei den Amerikanern, die durch Vermittlung des ausgewanderten Bauhauslehrers Josef Albers erfolgte: James Bishop, Robert Mangold, Ad Reinhard, Kenneth Noland und John McCracken.

Nach diesem Ausblenden im Wohlklang der Leere empfängt der erste Stock mit einer schreiende Eruption chaotischer Kraft. Eine dicke Farborgie von Baselitz im Riesenformat läutet den abrupten Szenenwechsel ein mit Bildern des greisen Picasso, des grossen, noch immer unterschätzten Bram Van Velde und mit Kirkeby, der die Malerei sozusagen geologisch zu ergründen sucht.
Dann folgt ein dichtes Kabinett mit Kleinformaten im Zeichen des Schattens: Klee, Jawlensky, Meyer-Amden, Morandi, Vija Celmins, Karl Ballmer, Helmut Federle. Auf die Nacht des Lichts folgt die Nacht der Seele - die kryptische Wirklichkeit des Unbewussten - mit Magritte, Ensor, Ernst, Wols, Pollock, Georgia O‘Keefe und Meret Oppenheim. Ein Hauptraum vergegenwärtigt den Abstrakten Expressionismus, mit dem die amerikanischen Kunst erstmals imperial auftrumpfte. Soutine, Varlin, Souter, Dubuffet mit den Kobrakünstlern Jorns und Appel erhellen das Verhältnis von materialbetonter Expression und Art brut. Ein Raum mit Gerhard Richter, Silvia Plimack Mangold, Remy Zaugg und Franz Gertsch erörtert die effizienten Antikörper, die das Immunsystem der Malerei angesichts der akuten Infektion durch die mimetischen Technologien (Foto, Video, Computer) entwickelt hat.

Wie ungebrochen vital sich die Malerei auch heute gegen die geballte Macht der neuen Medien behauptet, wird schliesslich im Keller greifbar, wo sich die Jungen mit ihren postmodernen Positionen ausbreiten. Da werden mit viel Humor und Ironie alle zuhandenen Register gezogen. Unverfroren wird zitiert, geklaut und zusammengemixt, und am Ende schafft man es doch immer wieder, kraft nichts als Malerei zu betören. Das Malen ist halt einfach eine Lust, dagegen scheint kein Kraut gewachsen.

Das Gedächtnis der Malerei. Lesebuch zur Malerei des 20. Jahrhunderts mit zahlreichen Abbildungen. Fr. 58.-